Der Verehrer
gebracht, an dem sie sich dankbar festhielt. Sie hatte einem Polizisten erzählt, was geschehen war, soweit sie es mitbekommen hatte, und er hatte sie gebeten, sich noch zur Verfügung zu halten. Der Arzt hatte sie gefragt, ob sie etwas brauche, doch sie hatte den Kopf geschüttelt und gesagt, sie sei in Ordnung.
Vielleicht war sie das aber gar nicht. Irgend etwas in ihr weigerte sich noch immer, wirklich zu begreifen, was sie gesehen hatte. Jedesmal, wenn das Bild der auf der Straße liegenden Frau in ihr aufsteigen wollte, wenn der Gedanke an die grotesk verrenkten Gliedmaßen in ihr erwachte, sandte ihr Gehirn den Befehl aus, augenblicklich etwas anderes zu sehen, etwas anderes zu denken. Es war ihr nicht bewußt, daß sie selbst an diesem Vorgang des Verdrängens beteiligt sein könnte. Etwas arbeitete in ihr, das sich ihrem Einfluß entzog. Irgendwann, während sie so dasaß und intensiv registrierte, wie ihre betäubte Gesichtshälfte wieder erwachte, kam ihr der Gedanke, sie könne einen Schock haben. Vielleicht hätte sie mit ins Krankenhaus fahren sollen. Es schien ihr jedoch jetzt zu spät dafür, und so blieb sie einfach sitzen und blinzelte in die Sonne.
»Möchten Sie noch etwas Kaffee?« fragte eine freundliche Stimme hinter ihr.
Leona wandte sich um und sah eine ältere Frau, die eine Thermoskanne in der Hand hielt. Offensichtlich war sie es gewesen, die ihr vorhin den Becher in die Hand gedrückt hatte. Sie sah elend und geschockt aus.
»Das wäre nett«, sagte Leona dankbar.
Die Frau schenkte ihr Kaffee nach. »Sie sehen ja furchtbar blaß aus! Es muß schlimm für Sie gewesen sein. Die arme, arme Eva! Ich kann es überhaupt nicht fassen!« In ihrer Stimme klangen Tränen.
»Eva?« fragte Leona. »Hieß sie so?« Sie verbesserte sich sofort: » Heißt sie so?«
»Eva Fabiani. Wir sind eng befreundet, wissen Sie. Ich wohne in der Wohnung direkt unter ihr. Aber ich habe nichts mitbekommen. Ich war auf meinem Balkon draußen, und der geht nach der anderen Seite hinaus.«
Der Kaffee war heiß und stark. Wahrscheinlich nicht unbedingt das Richtige für ihren frisch behandelten Zahn, aber angesichts der jüngsten Ereignisse erschien Leona ihr Zahn unbedeutend.
»Ich mache mir entsetzliche Vorwürfe«, sagte die Frau. »Ich hätte wissen müssen, daß so etwas irgendwann passiert. Ich glaube, ich konnte mir nicht vorstellen, daß sie es wirklich tut. Ich hätte nie den Mut.«
»Sie war wohl sehr verzweifelt«, meinte Leona. Das Bild drängte sich wieder auf. Die Frau auf dem Gehsteig. Die Arme und Beine, die wie zufällig hingegossen dalagen, als hingen sie gar nicht mehr mit dem Körper zusammen. Was etwa auch den Tatsachen entsprochen haben mußte. Als sie Eva auf die Tragbahre luden, hatte einer der Sanitäter gesagt: »Die ist ja buchstäblich in Stücke zerbrochen!«
»Ja, sie war verzweifelt«, sagte die Frau mit dem Kaffee,
»aber ich hatte in der letzten Zeit das Gefühl, es ginge ihr besser. Sie ist vor vier Jahren geschieden worden. Damals zog sie hier ins Haus. Sie und ihr Exmann hatten das gemeinsame Haus in Kronberg verkauft, und von ihrem Anteil hat sie sich die oberste Wohnung gekauft. Eine besonders schöne Wohnung. Wunderbare Terrasse nach hinten hinaus. Die Scheidung hatte sie furchtbar mitgenommen. Sie suchte unmißverständlich Anschluß, und ich habe mich um sie gekümmert. Ich bin auch sehr viel allein. Es schien ihr langsam besserzugehen. Aber vor einem dreiviertel Jahr hat ihr geschiedener Mann …«
Ein Polizist trat heran. »Frau Dorn?«
»Ja«, sagte Leona.
»Sie können jetzt erst einmal nach Hause gehen. Ich brauche nur Ihre Personalien, damit wir uns noch einmal an Sie wenden können. Es kann sein, wir brauchen noch einmal eine detaillierte Aussage von Ihnen.«
»Ich habe wirklich nichts gesehen. Erst als sie aufschlug …«
»Vielleicht fällt Ihnen ja doch noch etwas ein. Wir melden uns bei Ihnen.«
Sie nannte ihm Adresse und Telefonnummer, die private und die ihres Büros, und er notierte sich alles auf einem dicken Block. Leona gab ihre Telefonnummer auch an Eva Fabianis Freundin weiter mit der Bitte, sie zu benachrichtigen, wenn sie etwas über den Zustand der Frau erführe.
Der Kaffee hatte sie gestärkt. Sie fühlte sich etwas besser. Sie ging in den Verlag, setzte sich hinter ihren Schreibtisch und schaffte es tatsächlich noch, einen ganzen Berg Arbeit abzutragen.
Um fünf Uhr rief die Nachbarin an. Eva Fabiani war trotz intensiver Bemühungen der
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