Der Verehrer
Ärzte im Krankenhaus ihren schweren Verletzungen erlegen.
Wie oft hatte sie seither jenen Traum gehabt? Nicht jede Nacht, aber fast jede zweite. Die Frau, die durch die Luft flog. Das häßliche Geräusch, mit dem der Körper auf den Asphalt klatschte. Der Ausdruck des Gesichts, die Augen, die plötzlich wegzuschwimmen schienen. In beinahe jedem Traum tauchte auch ein Polizist auf, überlebensgroß, der sich zu ihr hinunterbeugte. Er kam ihr so nahe, daß sie meinte, zurückweichen zu müssen, und es doch nicht konnte.
»Haben Sie etwas beobachtet?« fragte er. »Haben Sie etwas beobachtet? Haben Sie etwas beobachtet? Haben Sie …?« Er wiederholte die Frage in immer schnellerem Tempo, in zackigem Stakkato. Sie kam nicht dazu, ihm zu sagen, daß sie nichts gesehen hatte. Er schien es auch gar nicht hören zu wollen. Er schoß nur seine Fragen ab und schien ihre verzweifelten Anstrengungen, ihm zu antworten, gar nicht zu bemerken.
»Vielleicht solltest du doch einmal einen Psychotherapeuten aufsuchen«, sagte Wolfgang, »du weißt ja, daß ich von diesen Leuten nichts halte, aber du bräuchtest vielleicht nur ein paar Stunden, in denen du einer neutralen Person dein Herz ausschütten kannst. Ich scheine dir ja nicht helfen zu können.«
Er klang ein wenig gekränkt. Leona fragte sich, wann und wie er ihr überhaupt zu helfen versucht hatte. Natürlich hatte er zugehört, als sie alles erzählt hatte, am Abend jenes Tages. Er war betroffen gewesen, und es schien ihm aufrichtig leid zu tun, daß ausgerechnet ihr so etwas hatte passieren müssen. Er hatte ihr einen Cognac eingeschenkt, und dann hatte er sich um das Essen gekümmert, während sie im Wohnzimmer saß und heulte. Er ließ den Reis anbrennen und versalzte die Pilze in Rahmsoße, aber der gute Wille zählte, und Leona hatte sich tatsächlich besser
gefühlt. Allerdings hatte Wolfgang wohl gemeint, daß es damit nun gut sein müsse. Er reagierte zunehmend gereizt, als Leona in den folgenden Tagen immer wieder von der Geschichte anfing. Eines Morgens hatte er während des Frühstücks seine Serviette neben den Teller geknallt und Leona zornig angesehen.
»Ehrlich gesagt, Leona, ich kann den Namen Eva Fabiani nicht mehr hören! Herrgott noch mal, ich verstehe ja, daß das ein gräßliches Erlebnis für dich war, aber andererseits kanntest du diese Frau doch gar nicht! Außer ihrem Namen weißt du nichts von ihr, du weißt nicht einmal genau, warum sie sich da überhaupt hinuntergestürzt hat. Du mußt den ganzen Vorfall jetzt endlich vergessen!«
Er hatte recht, das wußte sie. Sie mußte aufhören, über eine Frau nachzudenken, die etwa so alt gewesen war wie sie selber und die keinen anderen Ausweg als Selbstmord gesehen hatte. Ein Verbrechen erschien Leona unwahrscheinlich, obwohl sie manchmal den Eindruck hatte, ein Mord hätte sie nicht so erschüttert wie dieser Freitod.
Sie versuchte, vor Wolfgang nicht mehr von alldem zu sprechen – außer, wenn es sich nicht vermeiden ließ, so wie jetzt, wenn er nachts von ihren Alpträumen wach wurde.
»Ich halte auch nichts von Psychotherapeuten«, sagte sie nun. Sie wußte, daß sie zu pauschal urteilte, aber eine ihrer Kolleginnen war aus einer jahrelangen Therapie kranker hervorgegangen, als sie zuvor gewesen war.
»Ich brauche auch keinen Therapeuten«, fügte sie fast trotzig hinzu, »ich brauche nur ein bißchen Zeit.«
Wolfgang unterdrückte ein weiteres Gähnen. »Und ein bißchen guten Willen«, sagte er und kehrte damit an den Anfang des Gesprächs zurück. »Du darfst nichts tun, was
unweigerlich alles wieder aufwühlt. Es war zum Beispiel völlig falsch, zu der Beerdigung zu gehen.«
Natürlich war es falsch gewesen. Sie wußte das, und Wolfgang hatte es auch inzwischen oft genug betont. Aber irgend etwas hatte sie gedrängt, auf den Friedhof zu gehen. Sie war der letzte Mensch, mit dem Eva gesprochen hatte. Sie war ihr dieses letzte Geleit schuldig.
Die Nachbarin hatte bei ihr angerufen. »Hier ist Behrenburg. «
Ihr war der Name entfallen. »Ja?«
»Die Nachbarin von Eva Fabiani. Ich wollte nur sagen, daß sie morgen um elf Uhr bestattet wird. Vielleicht möchten Sie ja auch kommen?«
Wolfgang hatte später behauptet, sie habe sich von jener »gänzlich unbedeutenden Frau Behrenburg« zur Teilnahme an der Beerdigung »nötigen« lassen. Er war wütend gewesen und hatte nicht verstanden, daß sie selbst das Bedürfnis verspürte, zum Friedhof zu gehen.
Überraschenderweise waren kaum
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