Der Verehrer
ERSTER TEIL
Es war ein wundervolles Spiel, sich von ihm durch den Wald jagen zu lassen. Irgendwann im letzten Sommer hatten sie es entdeckt. Ein heißer, sonniger Tag, sie erinnerte sich, aber im Wald war es angenehm schattig und viel kühler als auf dem Feld gewesen.
»Fang mich doch!« hatte sie plötzlich gesagt, ihre Hand aus seiner gelöst und war davongerannt.
Er hatte gewartet, bis ihr Vorsprung groß genug gewesen war, um die Sache spannend zu machen. Ja, er hatte gewartet, bis sie aus seinem Blick verschwunden war. Sie war über Gräben gesprungen, durch Gebüsche gekrochen, hatte Haken geschlagen wie ein Hase, um ihn über ihre Richtung zu täuschen. Die ganze Zeit über hatte sie gedacht: Albern, ich bin fast fünfzig Jahre alt, er ist schon über fünfzig, und wir rennen hier herum wie Kinder, die Verstecken oder Fangen spielen …
Ihr war ganz heiß geworden bei der Vorstellung, ihre beiden erwachsenen Söhne könnten sie jetzt sehen. Doch dann hatte sie sich gesagt, daß die Besonderheit des Spiels darin bestand, daß niemand sie sah. Die Söhne nicht, die Nachbarn nicht. Sie waren allein in der Tiefe und Stille des Waldes.
Irgendwann war sie ihm direkt in die Arme gelaufen. Er hatte sie ausgetrickst, hatte plötzlich vor einer Schonung
junger Tannen gestanden, durch die sie gekrochen kam, die Haare voller Tannennadeln, die Kleidung voller Laub und Erde. Sie war wirklich erschrocken; er behauptete später, sie habe aufgeschrien, aber davon wußte sie nichts mehr. Entscheidend war, was dann geschehen war. Sie hatten sich auf dem Waldboden geliebt, inmitten der kleinen Tannen, sie beide in ihrem fortgeschrittenen Alter, mit zwei erwachsenen Kindern, einem eigenen Häuschen, einem Dackel, einer Einbauküche und einer brandneuen Wildleder-Sofa-Garnitur. Er hatte ziemlich viel Bauch und mähte im Sommer an jedem zweiten Samstag den Rasen, und sie hatte zu dicke Oberschenkel und wünschte sich sehnlichst ein Enkelkind. Niemand, der sie kannte, hätte von ihnen geglaubt, daß sie irgendwelcher Verrücktheiten fähig wären. Sie waren spießig, aber sie hatten sich in ihrer Spießigkeit gut eingerichtet und waren glücklich damit. Nur manchmal …
Heute war wieder so ein Tag. Ein warmer Frühsommertag. »Fang mich doch«, hatte sie auch diesmal gesagt, und er hatte geantwortet: »Es ist viel zu warm …« Aber da war sie schon losgelaufen, eigensinnig wie ein Kind, das sich sein Lieblingsspiel von niemandem verderben lassen will.
Sie konnte ihn nirgendwo sehen oder hören. Sie blieb stehen, wischte sich den Schweiß von der Stirn, lauschte. Nichts. Keine Schritte, kein Rascheln. Als sei sie allein auf der Welt. Hatte sie ihn wirklich abgehängt? Oder lauerte er ganz in der Nähe, verbarg sich hinter einem Gebüsch, wartete auf den geeigneten Moment, hervorzuspringen und ihr einen Riesenschrecken einzujagen?
Es war ihr auf einmal eigenartig flau im Magen. Sie hatte keine Ahnung, warum. Wenn er plötzlich auftauchte, wäre das gruselig, aber es wäre ein eher angenehmes Gruseln. Nie hatte sie sich wirklich gefürchtet.
Diesmal aber war es etwas wie Furcht, was sie verspürte. Trotz der Sonnenstrahlen, die durch die Laubdächer der Bäume fielen, trotz des Vogelgezwitschers und des Geplätschers eines kleinen Baches in der Nähe verströmte der Wald eine Ahnung von etwas Schrecklichem. Sie kam sich idiotisch vor, aber sie hatte den Eindruck, eine ungute Witterung aufgenommen zu haben, wie ein Tier, das die Gefahr spürt, noch ehe sie sich zeigt. Sie kam sich allein vor und doch nicht allein.
Halblaut rief sie seinen Namen. Keine Antwort. Das Vogelgezwitscher verstummte für einen Moment, setzte dann um so lauter wieder ein. Auf einmal war die Angst da, jäh und pulsierend. Sie drehte sich um und rannte fast, versuchte den Rückweg zu finden und konnte doch nichts Vertrautes entdecken. War sie an dieser Baumgruppe vorbeigekommen? Sie konnte sich nicht erinnern, einen Ameisenhaufen gesehen zu haben.
Sie rief seinen Namen erneut, lauter jetzt, und nun lag Panik in ihrer Stimme. Machte er sich einen Spaß daraus, ihr nicht zu antworten? Er war ganz in ihrer Nähe, sie spürte, daß da jemand war … In ihre Angst mischte sich Zorn. Er ging zu weit. Er mußte merken, daß jetzt ernsthaft etwas nicht mehr stimmte mit ihr. Das Spiel war aus, vorbei. Sie bildete sich nicht länger ein, ein Teenager zu sein, der verliebt und glücklich im Wald herumtollte. Sie war eine fast fünfzigjährige Frau mit dicken
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