Der vergessene Turm: Roman (German Edition)
sagen?«
Mellow schüttelte betrübt den Kopf. »So gerne ich das verkünden würde, Herr Wredian, aber da irrst du dich – leider. Alles, was wir erreicht haben, haben wir mitgebracht, sozusagen: Gevatter Rorig, seine Frau und seine Söhne. Und Gatabaid, das Mädchen, nicht zu vergessen. Alle anderen, die wir am Mürmelkopf fanden, sind tot, erschlagen oder gerissen oder beides. Und auch sie haben wir mitgebracht, wie du sicher weißt – um sie den Schnäbeln vorzuenthalten und sie in Würde und mit der angemessenen Trauer bestatten zu können. Du hast gewiss die traurige Fracht des Wagens gesehen.«
Herr Wredian nickte bekümmert.
»Und gesiegt?«, warf Finn ein. »Wer das sagt, der hat sie nicht gesehen. Ohne Circendil wären wir verloren gewesen, und wenn jemand einen Sieg errungen hat, dann war er es, in einem ungerechten Kampf zehn gegen einen. Und auch das hätte nichts bewirkt, denn die Gidrogs zählten immer noch vierzig oder mehr. Sie hätten uns zermalmt und waren eben dabei, es zu tun, als Jemand kam! Ein Mächtiger in ihren Reihen, der es ihnen untersagte! Allein sein Erscheinen war das Entsetzlichste, was mir je widerfahren ist! Das ist schon unser ganzer Sieg, Herr Wredian, wenn du es wissen willst: Der Feind kehrte um und ging unbehelligt seiner Wege. Oder richtiger: Er flog davon, weil man es ihm befahl. Und nichts kann ihn davon abhalten zurückzukehren, wann immer es ihm wieder in den Sinn kommen sollte. Wir haben einen unerwarteten Aufschub erhalten, das ist wahr. Doch wie lange er währtund wozu er dienen mag, das wissen wir nicht. Das ist, was dort draußen geschah!«
»Die Gefahr«, sagte Circendil mit leiser Stimme, »ist sogar größer geworden, größer, als wir zunächst dachten: für das Hüggelland und darüber hinaus für ganz Kolryn. Es ist wichtig, ehrenwerter Herr Wredian, dass wir die Dinge richtig sehen und verstehen. Finn hat Recht! Ein wahrhaft Mächtiger unter den Mächtigen hat sich fern von hier erhoben und streckt nun seine Hand nach Kolryn, unser aller Heimat aus. Was für Absichten er dabei verfolgt, ahne ich nur zu einem geringen Teil. Was Finn und Mellow sagen, ist indes die bittere Wahrheit. Wir haben einen Aufschub erhalten, ohne eigenes Zutun und unverdient. Es liegt an uns, diese Frist zu nutzen, so gut wir es eben vermögen. Für heute und diese Nacht haben wir nichts zu befürchten, denke ich; vielleicht werden uns auch drei oder vier Tage oder gar eine ganze Woche geschenkt. Ich weiß es nicht. Aber ich rate dazu, diese Zeitspanne nicht ungenutzt verstreichen zu lassen. So wenig wir tun können, dieses wenige sollten wir tun, und wir sollten es rasch tun. Darum sage ich: Lasst uns morgen Vormittag Kriegsrat halten!«
»Kriegsrat«, murmelte Uranam. »Dieses Wort ist noch nie gehört worden im Hüggelland.«
»Und es sollte nicht gehört werden müssen!«, bekräftigte Ludowig.
»Zumal die Zahl unserer Krieger klein ist«, ergänzte Wredian. »Ich kenne nur vier, die sich so nennen dürfen, Euch ausgenommen, Herr Circendil.« Sein Blick streifte die Rohrsangbrüder und Finn mit einem dankbaren Lächeln.
»Deshalb ist es notwendig, einen Rat einzuberufen«, sagte der Mönch. »Es sind wichtige Entscheidungen zu treffen. Und manche davon werden uns allen nicht gefallen. Ich bin sehr froh, mit Euch wenigstens drei Scepmáhin an einem Ort versammelt zu sehen. Das ist mehr, als ich gestern noch zu erhoffen wagte. Es geht nicht nur darum, ob wir die Barrikaden aufrechterhalten oder nicht. Es geht darum, die Tragweite all dessen, was derzeit geschieht, zu begreifen.Nur so können wir hoffen, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Morgen will ich Euch alles erzählen, was es über die möglichen Absichten des Feindes zu berichten gibt. Denn über eines wissen wir inzwischen sicher Bescheid, etwas, das Finn früher in dieser Nacht schon erahnte oder erkannte. Herr Ludowig wird sich daran erinnern: Die Anwesenheit des Feindes hier im Hüggelland und meine eigene Reise hierher sind kein Zufall. Sie stehen in einem inneren Zusammenhang, auch wenn er mir bis heute nicht bekannt war. So wie ich nach etwas suche, sucht auch der Feind nach etwas. Wenn es, wie ich annehme, dabei um das Gleiche geht, so fürchte ich, wird das Schicksal des Hüggellandes davon abhängen, wer es zuerst findet.«
Er lehnte sich zurück und wollte nicht mehr darüber sagen.
Wredian Gimpel drückte allen seine Dankbarkeit aus und lud sie zur vierten Stunde nach Sonnenaufgang zu dem
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