Der vergessene Turm: Roman (German Edition)
Schacht schöpfte Finn wieder ein wenig Hoffnung.
Sie gingen langsam, aber stetig weiter. Alle zehn oder fünfzehn Schritte kamen sie an handtellergroßen Öffnungen vorbei, die beiderseits der Wände schräg nach oben führten. Finn spürte einen schwachen Luftzug, als er seine Hand davorhielt. Einmal hielten sie kurz an, um zu lauschen, denn Mellow glaubte ein Quieken vernommen zu haben. Aber da war nichts, obwohl Mellow steif und fest behauptete, das Geräusch sei aus einem der Löcher gekommen. Hatte es anfangs noch dann und wann von den Wänden getropft, so hörten sie inzwischen nichts mehr außer ihren vorsichtigen Schritten und dem eigenen Atem. Es gab keine Abzweigungen und auch keine Kammern links oder rechts; aber Finn sah Rußspuren an der gewölbten Felsendecke, als Mellow seinen Stab einmal ganz nach oben hielt.
»Was ist das hier?«, fragte Finn, während sie weitergingen.
»Das, was ich zu finden hoffte – ein Fluchttunnel, nehme ich an.«
»Was du zu finden hofftest? Und auf diese bloße Hoffnung hin hast du mich in den Brunnen geschickt?«
»Nun, was sollte ich machen? Es war meine letzte Karte, wie du selbst sagtest. Ich habe mir all die imposanten Bauwerke angesehen, die die Benutcaerdirin einst hier geschaffen haben. Und ich dachte mir, wer so den Stein zu bearbeiten und ihn so geschickt zu verbauen verstand, der hat jedenfalls genug davon: Verstand , meine ich. Ich weiß nicht, ob es je einen Angriff auf den Acaeras Alamdil gegeben hat, aber eines ist doch gewiss: Wenn es zu einer Belagerung gekommen wäre, dann wären die Herren des Turms eingeschlossen gewesen. Und sich in solch einem Fall keine Hintertür offen zu halten, das wäre, mit Verlaub gesagt, ziemlich dumm gewesen. Wer aber Verstand besitzt, der ist nicht dumm. Also, dachte ich mir, haben sie irgendwo einen geheimen Tunnel gegraben, der es den Turmherren gestattete, ungesehen zu verschwinden. Also ziemlich genau das, was wir brauchten, Finn.
Damit stand ich vor der Frage, wo sie den Tunnel wohl versteckt haben mochten. Und ich dachte mir, jemand mit Verstand bohrt sich nicht dreimal durch dicken Fels, wenn er es zweimal ohnehin schon getan hat. Einen Brunnen brauchten sie in der Vorburg, und einen weiteren in der Turmburg, der eigentlichen Festung. Von dort – und nur von dort, wenn überhaupt – würden sie heimlich fliehen, sagte ich mir, falls die Not groß würde. In diesem Fall wäre die Vorburg längst eingenommen, und der Alte Turm stünde kurz vor dem Fall; alles andere machte mir keinen Sinn. Und eben dieser Brunnen, sagte ich mir, muss ziemlich tief hinabreichen, denn Wasser ist erst dort zu finden, wo draußen auf gleicher Höhe der Wirrelbach fließt.
Würde man, so dachte ich mir, vom Grund des Brunnens einen waagerechten Tunnel graben, so hätte man sich viel mühselige Plackerei mit dem harten Fels erspart; die Stelle befindet sich ja, wenn du so willst, sozusagen auf halbem Wege.
Als ich erkannte, wie gut erhalten alles hier ist, was aus Turmstein gefertigte wurde, sah ich mir den Brunnen näher an. Banavred hatte ihn ja nicht selbst gebaut, sondern nur wieder in Betrieb genommen, wie du selbst erzähltest. Auch der Brunnen besteht aus Turmstein, das konnte ich erkennen. Falls ich also Recht hatte mit meiner Annahme und es einen Weg hinab und hinaus gab, dann dort. Eben unten am Grund des Brunnenschachts. Du kannst es eine gewagte Beweisführung nennen, wenn du willst; und, nun ja, ich gebe zu, ich hoffte es nur. Wissen konnte ich es nicht. Aber es sprach einiges dafür. Bei der nächsten Gelegenheit flüsterte ich dir daher zu, in den Brunnen zu fliehen, und hoffte sehnlichst, duwürdest mir vertrauen. Was du, es sei gepriesen, auch tatest. Aber sag, wie ist es dir gelungen, Gatabaid zu befreien?«
Finn erzählte, wie er, ohne nachzudenken, in dem Moment vorwärts gestürzt war, als er Mellow loslaufen sah. »Wie aber bist du ihnen entkommen?«, fragte er anschließend.
»Das«, antwortete Mellow, »war der schwierigere Teil. Denn außer, dass ich sie ablenken musste, um dir Zeit zu verschaffen, wies mein Plan deutliche Lücken auf. Eigentlich bestand er nur aus Lücken – oder aus einer einzigen großen, wie du auch sagen könntest. Um ehrlich zu sein: Ich hatte gar keinen Plan.
In der Asche ist noch Glut, sagte ich mir. Also lauf gefälligst hinein und wirbele so viel Staub auf, wie du nur kannst. Udrak, glaube ich, nahm meine Verfolgung auf. Noch im Aschenhaufen schlug ich einen Haken.
Weitere Kostenlose Bücher