Der vergessene Turm: Roman (German Edition)
mich über Wasser halten?, fragte er sich. In seine Beine kroch schon die Kälte. Seine Füße taten von dem Aufprall weh und wurden klamm. Sie würden, das spürte er, bald taub sein; er hoffte, seine Hand möge länger aushalten und die Kordel weiter umklammern können.
Eben in jenem Augenblick gab das Zugseil nach. Seine Hand platschte ins Wasser, und das Seil fiel mit seiner gesamten Länge auf sie herab. Mit der einen Hand schützte er Gatabaids Kopf, mit der anderen, so gut es ging, sich selbst. Es versetzte ihm mehrere harte Schläge, doch das war nicht das Schlimmste. Mit jedem Atemzug lasteten die Schlingen schwerer und schwerer auf ihm und drohten, ihn mitsamt dem Mädchen unter Wasser zu drücken. Sie waren überall und behinderten seine Schwimmbewegungen, für die er ohnehin nur eine Hand frei hatte. Das Zugseil schlang sich um seineBeine, und sein Kopf geriet mehrfach unter Wasser. Er verschluckte sich und hustete. Dann, als er hilflos mit seiner freien Hand an der Brunnenwand entlangtastete, wieder Wasser schluckte und einen sei es noch so geringen Halt suchte, griffen seine Finger plötzlich in eine Art Mulde im Stein. Mit letzter Kraft klammerte er sich daran fest und wusste, er durfte sie nicht verlieren, sonst wäre es um ihn geschehen. In der Finsternis hätte er die Mulde niemals wiedergefunden.
Halt dich gut fest!, sangen Mellows Worte in seiner Vorstellung immer wieder und wieder, und er hing mit einem Arm an der Mulde; um Kraft betend, um Atem ringend. Mit Mühe befreite er seine Beine aus den Schlingen des Seils. Er trat um sich und schob so alles, was im Brunnen außer ihm und Gatabaid schwamm, mit den Füßen an die gegenüberliegende Seite des Schachtes. Nach einer kurzen Weile hatte sich das Seil vollgesogen und versank.
Als sich sein Atem beruhigt hatte, tastete er nach Gatabaids Herzschlag, und er frohlockte innerlich, als er merkte, dass sie noch lebte. Sie schien zu schlafen oder, wahrscheinlicher, vor lauter Furcht in Folge des Schmerzes oder des Sturzes bewusstlos geworden zu sein. Das war wohl das Beste, was beiden unter diesen Umständen hatte geschehen können. Denn wie er sie beruhigen sollte, wenn sie erwachte, das wusste er nicht. Er lauschte auf ihren Atem, und der war gleichmäßig, wenn auch schwach.
Ein Muskel des Arms, mit dem er sich an der Mulde festhielt, begann schmerzhaft zu zucken. Aber das war es nicht allein, was ihm Kummer bereitete. Er horchte und horchte abermals, und jetzt war er sich sicher. Hoch über ihm bewegte sich etwas: Ein Tasten war es, vielleicht auch ein Schaben oder Kratzen. Dann schien es wieder ein dumpfes Klatschen oder Patschen zu sein, als wenn eine Hand einen Halt suchte und ihn an einem Steinvorsprung fand. Finn hielt den Atem an und verhielt sich mucksmäuschenstill. Tatsch! Da war es wieder! Ein Steinchen löste sich und fiel mit einem nachhallenden Pitsch! ins Wasser.
Finns Arm bebte vor Anstrengung, und alle Muskeln in ihmbrannten, doch er wagte es nicht, sich auch nur einen Fingerbreit zu bewegen. Er unterdrückte sein Zittern und starrte in die zunehmende Dunkelheit hinauf. Schon konnte er den Umriss des Brunnenrades nicht mehr erkennen. Er lauschte, und jetzt war er sich sicher.
Es bestand kein Zweifel mehr: Etwas kam den Brunnenschacht herunter, und es kletterte langsam, aber stetig tiefer, tatsch! Und mit jeder halben Minute kam es näher, titsch! Ein Schemen in der Dunkelheit, vorsichtig, bedächtig, leise, und Finn brauchte nicht lange zu warten, da hörte er etwas schnaufen, und es klang wie ein Schnüffeln, das nach ihm suchte.
8 . KAPITEL
Mellows letzte Karte
E RNEUT SCHABTE ETWAS. W IEDER lösten sich Steinchen, und diesmal prasselte gleich ein ganzer Regen von Staub und Schmutz auf Finn hernieder. Mit äußerster Mühe vermied er ein Husten. Etwas kratzte über ihm an dem Caeraban, aus dem auch die Brunnenwandung größtenteils bestand. Aber es gab auch Abschnitte, die aus einem anderen, raueren Baustoff gefügt waren, der dem Zahn der Zeit weniger widerstanden hatte. Wahrscheinlich war es das, was da bröckelte und rieselte. Das, was da die Wandung herabkletterte, hielt dann inne, um kurz darauf an anderer Stelle zu tasten und zu patschen. Je tiefer und näher es kam, desto weniger hallte es merkwürdigerweise im Rund des Schachtes wider.
Das Schnüffeln verwandelte sich alsbald in ein angestrengtes Atmen; und das unheimliche Patschen auf feuchtem Stein wurde zu einem schmirgelnden, fast gewöhnlichen Geräusch, wie
Weitere Kostenlose Bücher