Der verlorene Sohn von Tibet
Indem sie sich sogar bei den alltäglichsten Verrichtungen vom Grundsatz des Mitgefühls leiten ließen, führten sie ein Dasein umfassender Schönheit. Sobald man den Brunnen erkannte, in den man stolperte, könne man doch ohnehin nichts mehr daran ändern, pflegte Gendun gern zu sagen.
Yerpa beherbergte seit fast fünfhundert Jahren Mönche, Gelehrte und Einsiedler, doch der Lama wußte genausogut wieShan, daß ein einziger Spitzel oder eine zufällige Militärpatrouille noch heute den Untergang des Klosters besiegeln konnte, das Shan inzwischen als einen der großen Schätze dieser Erde betrachtete, ein strahlendes Juwel in der Kruste einer freudlos trüben Welt.
»Ich habe mitgebracht, was du benötigen wirst, Shan«, sagte Gendun und deutete auf einen zerlumpten Leinenbeutel, der in verblaßter, einst kunstvoller tibetischer Handschrift mit dem mani -Mantra versehen war, der traditionellen Anrufung des Mitgefühls. »Lokesh kann dir heute abend den Weg zeigen. Es ist Halbmond.«
Tags zuvor hatten Gendun und Shan die Tasche feierlich gepackt, während der Lama von Einsiedlern früherer Zeiten erzählt und die von ihnen verfaßten Gedichte rezitiert hatte. Bei all den aufregenden Ereignissen des heutigen Tages hatte Shan ganz vergessen, daß er den nächsten Monat allein in einer Höhle zubringen würde, irgendwo tief in den Bergen.
Der Anblick des Beutels löste einen heftigen Gefühlsansturm aus. Nicht lange nachdem Shan vor einigen Wochen aus dem Norden nach Yerpa zurückgekehrt war, hatte ihn eine schwere Krankheit befallen, verbunden mit hohem Fieber und einer drei Tage währenden Phase, in der er praktisch ohne Bewußtsein gewesen war. Nach Shans Genesung hatte Gendun sich sehr wortkarg verhalten, als würde eine große Sorge auf ihm lasten. Etwas war geschehen, und niemand wollte darüber reden. Shan befürchtete, den Mönchen könne irgendein Unheil drohen, und so ließ er nicht locker, bis sein alter Freund Lokesh ihm schließlich erklärte, daß Shan im Fieber eines Nachts wie ein verängstigtes Kind nach Gendun gerufen und weinend gesagt habe, er müsse nach Hause gehen und endlich frei sein.
Diese Worte hatten Gendun und Lokesh auf seltsame Weise erschüttert. Deshalb habe auch das Fieber so lange angedauert und Shan so sehr geschwächt, daß er sich kaum aufsetzen könne, hatte Lokesh erklärt. Seine Seele sei aus dem Gleichgewicht geraten, denn er leide unter einer Krankheit, die den tibetischen Heilern als »Herzwind« bekannt war.
Shan besaß kein Zuhause außer Yerpa und keine echte Familie außer den Mönchen und Lokesh. Doch Lokesh behauptete, das Fieber sei bis an eine dunkle Stelle im Innern Shans vorgedrungen, einen Ort der Verzweiflung, den die heilenden Kräfte der Tibeter nicht erreicht hatten und von dem die Tibeter auch nicht wußten, wie sie ihn erreichen sollten. Es hatte Shan unsagbar geschmerzt, auf den Gesichtern von Gendun und Lokesh plötzlich Selbstzweifel zu entdecken. Erst nach mehreren Tagen konnte er sich überwinden, die Sache zur Sprache zu bringen und als unbedeutend abzutun, als einen Traum womöglich, einen der wiederkehrenden Träume von sich selbst als kleinem Jungen, der nach seinem Vater suchte. Schenkt dieser Stimme keinen Glauben, hätte er am liebsten gesagt. Ignoriert diesen Teil von mir, der angeblich nicht bei euch bleiben möchte, und zweifelt nicht an euren Fähigkeiten als Lehrer.
»Du mußt eine Reise ins Innere antreten«, hatte Gendun am Ende zu ihm gesagt und damit eine lange Meditation gemeint. »Du mußt einen Weg finden, dich nicht länger selbst einzusperren. Ich kenne da eine Höhle.«
Dann hatten sie mehr als eine Woche auf die Vorbereitungen verwandt, gemeinsam meditiert und die Habseligkeiten ausgewählt, die Shan mitnehmen würde. Einige Butterlampen. Zwei Decken. Einen kleinen Sack Gerste samt winzigem Kochtopf und etwas Yakdung als Brennstoff. Und das Erbstück, das sich seit mehreren Generationen im Besitz von Shans Familie befand: die Schafgarbenstengel, mit denen man das Tao-te-king befragte, das uralte chinesische Buch der Weisheit.
»Wie kann ich denn jetzt von hier fortgehen?« fragte Shan flüsternd. Er war sich nicht einmal sicher, ob Gendun ihn hörte, doch er kannte die Antwort bereits. »Die Soldaten werden Oberst Tan von der Feier berichten. Die Mönche von Yerpa werden in größerer Gefahr schweben als jemals zuvor.«
»Für uns gibt es nichts Wichtigeres, als bei diesen Menschen zu sein, denen Buddha seit vielen Jahren
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