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0645 - Das ewig Böse

0645 - Das ewig Böse

Titel: 0645 - Das ewig Böse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Kern
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Die blinde Seherin saß mit geschlossenen Augen in dem kleinen Zelt, das die Dorfbewohner für sie aufgebaut hatten. In den frühen Morgenstunden hatte sich das ganze Dorf zu der feierlichen Zeremonie versammelt, die heute stattfinden sollte. Ohne zu murren, saßen Männer, Frauen und Kinder seitdem in der sengenden Sonne und warteten.
    Sie warteten darauf, daß Anxim-Ha, die Seherin, ihre Entscheidung traf. Die Seherin war eine uralte Frau, deren dürrer, gebrechlicher Körper in dem rituellen Umhang fast zu verschwinden schien. Selbst die Ältesten des Dorfes konnten sich nicht daran erinnern, sie jemals jung gesehen zu haben, und man munkelte, daß sie die Geschicke des Stamms seit der großen Katastrophe gelenkt hatte.
    Vor dem kleinen Zelt standen drei Frauen. Jede von ihnen trug einen Speer und eine Lederrüstung. Auch sie ertrugen seit Stunden die Hitze, aber sie beklagten sich nicht. Seit ihrer Geburt waren sie auf ihre Aufgabe vorbereitet worden, für die eine von ihnen heute auserwählt werden würde. Wen es treffen würde, wußten sie nicht. Das hatte allein die Seherin zu entscheiden.
    Anxim-Ha drang mit mentalen Fühlern in den Geist der ersten Kriegerin vor. Diese hatte ihre Ausbildung hervorragend beendet, aber in den Tiefen ihrer Gedanken trug sie eine Schuld mit sich herum, die sie stark belastete: in ihrer Kindheit hatte sie beim Schafehüten ein Lamm verloren und den Verlust aus Angst vor Bestrafung nicht gestanden. Statt dessen hatte sie behauptet, das Tier sei von einem Krieger des Nachbarstamms gestohlen worden. Bei der daraus resultierenden Stammesfehde waren drei Menschen getötet und das Dorf des Nachbarstammes vernichtet worden. Die Kriegerin wurde deswegen heute noch von Alpträumen geplagt.
    Ungeeignet , befand Anxim-Ha.
    Sie richtete ihren Geist auf die nächste Kandidatin. Sie trug keine düsteren Erinnerungen in sich, aber die Seherin konnte die Angst in ihren Gedanken spüren. Sie hielt sich nicht für geeignet und fürchtete, bei der großen Aufgabe versagen zu können. Insgeheim hoffte sie, daß jemand anderes auserwählt würde.
    Anxim-Ha wandte sich auch von ihr ab.
    Die dritte und letzte Kriegerin hatte weder Schuldgefühle noch Angst. In ihrem Geist fand Anxim-Ha eine ruhige Selbstsicherheit und die Arroganz, besser als alle anderen zu sein, verbunden mit der festen Überzeugung, ihre Aufgabe bewältigen zu können. Fast schon ein wenig zu überzeugt, dachte die Seherin. Trotzdem schien sie perfekt geeignet zu sein. Vor allem, und das war für Anxim-Ha das wichtigste, war sie der Seherin bedingungslos ergeben. Und das mußte sie auch sein, denn der Kampf, dem sie sich stellen würde, sollte nicht nur das Schicksal des Dorfes entscheiden und das der gesamten Welt.
    Viel wichtiger, fand zumindest die Seherin, war, daß er auch über ihr eigenes Schicksal entscheiden würde. Da konnte man in der Wahl der Kandidatin nicht vorsichtig genug sein.
    Trotz ihrer Blindheit griff sie zielsicher nach dem reichverzierten Dolch, der vor ihr lag. Sie konnte hören, wie die Dorfbewohner Atem holten. Sie wußten, daß die Seherin ihre Entscheidung gefällt hatte.
    Anxim-Ha erlaubte sich eine Kunstpause. Sie bewegte den Dolch zwischen den Kandidatinnen hin und her, bevor sie schließlich auf die Kriegerin zeigte, die zu ihrer Rechten stand.
    »Nefir-Tan,« verkündete sie laut, »du bist erwählt, für dein Volk und für deine Welt zu kämpfen. Mögest du siegreich sein.«
    Die Seherin glaubte das triumphierende Lächeln, das auf den Lippen der Kriegerin lag, beinahe zu sehen. Allerdings wußte sie, daß es gleich wieder verschwinden würde.
    Nefir-Tan verbeugte sich tief und nahm den Dolch entgegen.
    »Ich werde mich würdig erweisen«, versprach sie. Sorgsam packte sie den Dolch in ein Tuch und steckte ihn in den Gürtel. Erneut verbeugte sie sich und trat einen Schritt zurück.
    Anxim-Ha wartete, bis die anderen Kandidatinnen und die Dorfbewohner gratuliert hatten. Erst dann hob sie die Hand.
    Ruhe trat ein.
    »Es gibt etwas, was du wissen mußt, Nefir-Tan«, sagte sie. »Ich habe beschlossen, daß du nicht allein gehen wirst.«
    »Was?« entfuhr es der Kriegerin. »Die Tradition verlangt, daß ich alleine gehe! Wer soll mich denn begleiten? Eine von denen etwa?«
    Abfällig zeigte sie auf die beiden anderen Kriegerinnen. »Ich bin besser als beide zusammen, und das weißt du. Wieso entehrst du mich?«
    Um sie herum begannen die Dorfbewohner erregt untereinander zu tuscheln. Noch nie hatte es

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