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Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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bloß ein Schatten gewesen ist. Und für dich gibt es nichts Wichtigeres, als diese Höhle aufzusuchen.«
    Jemand näherte sich. Sie standen auf und sahen Liya, die sie unschlüssig anstarrte. Die schüchterne junge Frau wirkte bekümmert. Hinter ihr tauchte Lokesh auf, schaute besorgt zu Shan und legte Liya beruhigend eine Hand auf die Schulter.
    Der große, stiernackige Hirte kam zwischen den Ruinen zum Vorschein, dicht gefolgt von Jara und den meisten der anderen Hügelleute.
    »Soldaten!« rief er und wies auf den alten Steinturm. »Unser Rückweg ist versperrt!« Die Tibeter tuschelten aufgeregt. Die Angst in ihren Blicken war zurückgekehrt. »Die ganze Welt weiß über eure geheime Feier Bescheid!« herrschte der kräftige Hirte vorwurfsvoll Liya an. »Da hättet ihr dem verfluchten Oberst auch gleich eine persönliche Einladung schicken können.«
    Liya blickte zu Gendun und riß überrascht die Augen auf. Shan drehte sich um und sah, daß der Lama im Lotussitz auf dem langen steinernen Türsturz Platz genommen hatte. Die ausgestreckten Finger seiner rechten Hand wiesen zu Boden. Es war eine rituelle Geste, ein mudra , das die Erde zur Bezeugung des Glaubens anrief. Gendun saß zur westlichen Kammlinie gewandt, in Richtung der Soldaten. Eine der alten Frauen, die schon am chorten den ersten Schritt gewagt hatten, trat entschlossen vor und ließ sich zu Genduns Füßen nieder. »Falls heute Soldaten herkommen, werden sie mich genau hier antreffen«, verkündete sie.
    Liya ging zu ihr. »Wir können uns in ein sicheres Versteck flüchten«, sagte sie. »Shan und seine Freunde werden uns helfen.«
    Die Menge verstummte schlagartig. Liya keuchte auf, hielt sich die Hand vor den Mund und warf Lokesh einen erschrockenen Blick zu.
    »Shan?« rief der korpulente Hirte. Dann ging er zu Shan und schlug ihm den Hut herunter, dessen breite Krempe bislang sein Gesicht beschattet hatte. »Da hol mich doch der Teufel!« fluchte er und wandte sich an die anderen. »Das also ist der Chinese, der sich immer in tibetische Angelegenheiten einmischt? Die Frau hat recht, er wird uns hier raushelfen.« DerMann grinste tückisch und kam erneut auf Shan zu. Sein narbiges Gesicht ließ Roheit und Gier erkennen.
    »Shan wird sich aus dieser Gegend zurückziehen«, warf Lokesh mit trauriger Stimme ein und stellte sich dem Mann in den Weg.
    »Ganz recht«, knurrte der Hirte. »In Ketten und mit einer Spitzhacke.« Er drehte sich zu den anderen Tibetern um. »Er ist der Kerl, nach dem gesucht wird. Auf seinen Kopf ist eine Belohnung ausgesetzt.« Er wurde lauter. »Einhundert amerikanische Dollar. Genug, um uns allen monatelang die Bäuche zu füllen.«
    Gendun stimmte ein Mantra an.
    Shans Kehle war plötzlich knochentrocken. Er schaute von seinen Freunden zu dem aufgebrachten Hirten. »Wer steckt dahinter?« hörte er sich fragen. Im modernen Tibet waren Kopfgelder nicht unüblich. Die kommunistische Führung hatte den Grundsätzen der freien Marktwirtschaft durchaus etwas abgewinnen können.
    »Das ist nur ein Gerücht«, sagte Liya angespannt. »Angeblich sollst du zu Oberst Tan gebracht werden.« Sie hob den Kopf und sah Shan in die Augen. »Du gehst sowieso nie in die Stadt. Auch wenn es wahr wäre, wir dachten, du würdest hier oben in Sicherheit sein. Diese Leute wußten nichts von dir … jedenfalls bis jetzt.« In ihrem Blick lag Schmerz.
    »Es ist kein Gerücht«, widersprach der Hirte. »In den Fenstern der Geschäfte hängen Plakate.«
    »Es tut mir leid«, sagte Liya zu Shan. »Tan will dich offenbar zurückholen. Du mußt dich einfach nur tiefer in die Berge flüchten. In deinen Schlupfwinkel. Geh sofort los.« Sie deutete auf den Schnürbeutel.
    Shan war nie offiziell aus der Haft entlassen worden. Liya glaubte, ihm drohe erneut Zwangsarbeit in der 404. Baubrigade des Volkes.
    Sein Blick wanderte zu der Tasche mit dem mani -Mantra. Er wußte, daß seine Freunde nicht versucht hatten, ihn zu hintergehen, indem sie ihm das Kopfgeld verschwiegen. Und es war ihnen auch nicht um seinen Schutz gegangen. Die Chinesenwarfen Bomben, feuerten Kugeln ab, setzten Belohnungen aus. Für Shan und seine tibetischen Freunde unterschieden sich diese Dinge kaum von Hagelschauern oder stürmischen Winden. Es waren Bestandteile der rauhen Lebensbedingungen ihrer Umwelt, und so zogen sie sich allenfalls die Hüte tiefer ins Gesicht und beschleunigten ihren Schritt, aber sie wichen nicht vom Weg ab. Lokesh und Gendun würden dem Kopfgeld

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