Der verlorene Sohn von Tibet
Kapitel Eins
In Tibet gibt es Geräusche, wie man sie nirgendwo sonst auf der Welt vernimmt. Ein unerklärliches dumpfes Stöhnen wälzt sich die Hänge der verschneiten Bergspitzen hinab. Unter wolkenlosem Himmel hallt donnergleiches Grollen durch die Täler, und in mondhellen Nächten war mitten im zerklüfteten Gebirge von den Sternen der Klang winziger Glocken an Shan Tao Yuns Ohren gedrungen.
Anfangs hatte Shan auf seiner Gefängnispritsche gelegen und sich vor den unheimlichen Lauten gefürchtet. Später war er bei der Suche nach einer wissenschaftlichen Erklärung zu dem Schluß gelangt, es müsse sich dabei wohl um ein Zusammenspiel der dünnen Höhenluft und des Windes handeln, der veränderlichen Eisformationen und der Temperaturunterschiede zwischen Gipfeln und Schluchten. Nach mittlerweile fünf Jahren war Shan sich dessen nicht mehr so sicher. Der lange Aufenthalt in Tibet hatte ihn gelehrt, daß die meisten seiner früheren Überzeugungen nicht ausreichten, um das Wesen der Dinge zu durchschauen.
Das gequälte Ächzen, das nun quer durch die Talsenke schallte, ließ sich gewiß nicht mit herkömmlichen Mitteln erklären. Eine junge Frau in Shans Nähe hielt sich die Ohren zu und lief davon. Das Geräusch stammte von Surya, einem greisen Mönch in rotem Gewand, der zehn Meter entfernt von ihnen saß, und als Shan es zum erstenmal gehört hatte, war auch er erschaudert und hatte unwillkürlich die Flucht ergreifen wollen. Die Mönche nannten diese seltsamen Klagelaute Kehlgesang, aber Shan hielt sich lieber an die Bezeichnung, die sein alter Freund und einstiger Mithäftling Lokesh bevorzugte: Seelenschluchzer. Nach Lokeshs Ansicht war das spirituelle Bewußtsein unten in der Außenwelt oftmals so verkümmert,daß dieses Geräusch dort nur dann erklang, wenn die Seele eines Sterbenden sich mühsam vom Körper zu lösen versuchte. In Tibet hingegen sprach niemand voller Angst von dem Todesröcheln, denn hier war das Geräusch den Lebenden zugedacht. Die Gläubigen hier hatten gelernt, wie man den Seelen ohne Zunge eine Stimme verlieh.
Shan blickte der Frau bekümmert hinterher. Es war ein Tag großer Freude und noch größerer Gefahr. Die für vogelfrei erklärten Mönche, bei denen Shan lebte und die sich jahrzehntelang in ihrer geheimen Einsiedelei versteckt gehalten hatten, wollten der Bergbevölkerung nun nicht nur ihre Existenz preisgeben, sondern die Fremden zudem bei verbotenen Ritualen anleiten. Der heutige Tag würde herrliche Überraschungen bergen und den weiteren Lauf der Welt verändern, hatte Gendun, der oberste Lama, verkündet.
Shan hatte die Mönche davor gewarnt, ausgerechnet diese Tibeter zu der Klosterruine zu bringen. Daraufhin hatte Gendun sich auf ein Knie niedergelassen und einen Kieselstein umgedreht. Diese Geste war als Anspielung auf eine seiner Lehren gemeint gewesen. Die Welt konnte durch jede noch so unbedeutende Handlung verändert werden, sofern ihr Reinheit innewohnte, und sogar die kleinste aller denkbaren Gesten war rein, solange sie frei von Angst und Zorn blieb. Das Leben dieser Hirten war jedoch seit jeher von Furcht geprägt.
Peking hatte den Bewohnern im unwirtlichen Süden des Bezirks Lhadrung übel mitgespielt, denn sie hatten sich noch lange nach der militärischen Einnahme Lhasas hartnäckig gegen die chinesische Besatzung gesträubt. Die Ruinen, zwischen denen Shan und die anderen standen, waren die einzigen Überreste von Zhoka gompa , dem Kloster, das der Bevölkerung südlich des zentralen Tals von Lhadrung jahrhundertelang als religiöser Mittelpunkt gedient hatte. Vor vierzig Jahren war es einem Luftangriff der Volksbefreiungsarmee zum Opfer gefallen und gleich vielen tausend anderen gompas von Peking in Schutt und Asche gelegt worden. Die tapferen frommen Tibeter, die vergeblich versucht hatten, Zhoka und alles, wofür es stand, zu verteidigen, waren in alle Winde verstreut,getötet oder schlicht in tiefe Resignation getrieben worden.
»Man wird uns verhaften!« hatte eine Frau mit verschlissener roter Weste geklagt, als Shan und Lokesh die Leute auf einem grasbewachsenen Bergkamm getroffen und ihnen bedeutet hatten, zu dem achthundert Meter breiten Trümmerfeld hinabzusteigen.
»An diesem Ort spukt es!« hatte ein anderer Hirte protestiert, als Lokesh das Labyrinth aus bröckelnden Steinmauern betreten wollte. »Hier werden sogar die Lebenden zu Gespenstern!«
Doch als Lokesh, mit einem alten Pilgerlied auf den Lippen, unbeirrt weitergegangen
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