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Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Heidekraut. Warum wurde die Hütte ausgerechnet dort gebaut? Wer würde sich freiwillig an einem solchen Ort niederlassen?« Als niemand antwortete, deutete er auf die klaffende Wunde im Rücken der Göttin. »Wenn ihr genau hinseht, werdet ihr erkennen, daß in einer Falte des Metalls etwas festklemmt. Man hat der Figur zunächst den Rücken aufgeschnitten, sie dann umgedreht und den Kopf zertrümmert. Dabei wurde ein Stückchen Gras eingequetscht. Bei Atsos Hütte wächst aber kein Gras.«
    Liya holte ein Klappmesser aus der Tasche, bog die Metallfalte auf, zog einen grünen Halm daraus hervor und hielt ihn hoch, so daß alle ihn sehen konnten.
    »Das beweist überhaupt nichts«, zischte der Hirte.
    »Warum wurde die Hütte ausgerechnet dort gebaut?« fragte Shan erneut.
    »Die Klippe dahinter weist nach Süden, und unterhalb gibt es eine kleine Quelle«, warf Lokesh nachdenklich ein. Nach traditioneller Ansicht waren das zwei der Attribute eines Ortes von großer spiritueller Macht. Der alte Tibeter wandte sich an die anderen und wiederholte Shans Frage.
    »Eine Höhle«, sagte die alte Frau bei Gendun. Es war kaum lauter als ein Flüstern. Jemand in ihrer Nähe fluchte, und einanderer rief ihr zu, sie solle den Mund halten. Sie hingegen fuhr mit deutlich lauterer Stimme fort und sprach dabei Gendun an, als habe er die Frage gestellt. »Hoch oben auf der Klippe gibt es einen uralten Ort, an dem die Götter hausen«, rief sie. »Die Hütte wurde für diejenigen errichtet, welche die Höhle beschützen und den Göttern dienen.«
    Shan sah ebenfalls den Lama an und begriff, daß dessen kurzer Blick und die wenigen Worte, die er an den toten Atso gerichtet hatte, bereits alle wesentlichen Informationen enthielten. Gendun hatte gewußt, daß Atso heilige Arbeit verrichtete.
    »Er hat die Göttin irgendwo anders gefunden, vielleicht auf einem grasbewachsenen Hang, und beschlossen, er müsse sie fortan schützen und womöglich heilen«, sagte Shan. »Und zu diesem Zweck wollte er sie in die heilige Höhle bringen.«
    »Ja, genau das hätte er getan!« rief die alte Frau in plötzlicher Erkenntnis.
    »Zum Schutz schrieb er tausendfach ein Mantra auf, umwickelte seine Stiefel mit Jute, damit er besseren Halt finden würde, und kletterte die Klippe hinauf«, sagte Shan. »Aber er ist abgestürzt und hat sich beim Aufprall auf die Felsen beide Beine gebrochen, fast das Ohr abgerissen und das Gesicht zertrümmert. Es gab keinen Mord«, verkündete Shan mit lauter Stimme. »Und es gibt hier keine Mönche, die töten.«
    Noch während er sprach, deutete Liya erschrocken zu dem alten Turm. »Die Soldaten sind fort!«
    Die Tibeter folgten Liyas Blick und starrten dann mit großen Augen wieder Shan an, als habe er irgendeine Zauberei vollbracht. Einer nach dem anderen ließen sie den großen Hirten stehen, und manche fielen in Genduns Mantra ein. Der Narbige seufzte. »Lha gyal lo«, sagte er resigniert, trat im Weggehen aber gegen Shans Hut.
    Die Fürbitten setzten wieder ein. Die Feier begann erneut. Als Shan seinen Hut aufhob, hörte er Gebetsfetzen und sah dann, wie einige Tibeter einander umarmten. Mehrere kamen zu ihm, um ihm die Hand zu schütteln, und einer gab ihm einen kleinen Gebetsschal. Einige der Kinder brachten die Tontöpfe vom Innenhof mit und fingen lachend an, Mehl in dieLuft zu werfen. Die Freudenkundgebung fiel lauter und herzlicher aus als zuvor, denn es schien sich in der Tat um einen Tag der Wunder zu handeln: Immerhin hatte Shan sowohl die Soldaten als auch das Schreckgespenst eines unbekannten Mörders beseitigt. Gendun, der weiterhin auf dem ehemaligen Türsturz saß, lächelte. Sie würden nun doch noch ihr Fest feiern und er seine Rede halten können. Lokesh machte sich daran, einigen der Hirten ein Pilgerlied beizubringen.
    Als Shan sich zu Liya gesellte, um mit ihr das Mehl auszuteilen, neigte sie den Kopf in Richtung des Hofs. »Hör doch …«
    »Da ist nichts …«, setzte er an, aber im selben Moment fiel ihm auf, daß der Kehlgesang verstummt war. Eigentlich hätte die Litanei bis zum Beginn von Genduns Lehrstunde fortdauern sollen.
    Als Shan sich zum Innenhof umwandte, ertönte von dort ein gellender Schrei. Er rannte los.
    Das entsetzte Kreischen hörte gar nicht mehr auf. Es war der hysterische Ruf eines Kindes. Shan hatte erst wenige Schritte zurückgelegt, als ihm Dawa mit blutgetränktem Kleid entgegenkam. Sie gestikulierte hektisch und schrie immer weiter. Shan sah, daß auch ihre

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