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Der verlorne Sohn

Der verlorne Sohn

Titel: Der verlorne Sohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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werden wir uns heute einmal in die Gefahr begeben, von ihm bestraft und ermordet zu werden!«
    »Sie meinen doch nicht etwa –?«
    Er deutete auf die Tasche, in welche er vorhin den Brief des Waldkönigs gesteckt hatte.
    »Jawohl, das meine ich!«
    »Sie wollen den Brief lesen?«
    »Gewiß!«
    »Herr, das ist zu gefährlich.«
    »Haben Sie keine Sorge um mich. Der Waldkönig ist nicht mir, sondern ich bin ihm gefährlich! Bitte, zeigen Sie!«
    Wilhelmi zog den Brief zögernd hervor und gab ihn hin.
    »Aber ich stehe für nichts!« bemerkte er.
    »Ich dagegen für Alles! Ah, ein ganz gewöhnliches Couvert, so wie ich welche einstecken habe. Das paßt ganz gut. Und die Schrift? Sie ist nicht schwer nachzuahmen. Sehen wir also nach.«
    Er machte das Couvert auf. Es enthielt einen halben Bogen Briefpapier, auf welchem mehrere Reihen von Ziffern standen.
    »Eine Geheimschrift,« sagte der Musterzeichner.
    »Ja, aber sie ist nicht geistreich erfunden. Ich habe bereits Gelegenheit gehabt, ihren Schlüssel zu entdecken. Wollen einmal sehen, was diese Ziffern zu bedeuten haben.«
    Er nahm einen Bleistift vom Tische weg und ein Stück Papier, schrieb das Alphabet auf und setzt dann von A bis Z zurück die Ziffern 1 bis 25 unter die Buchstaben. Jetzt begann er, zusammen zu stellen. Wilhelmi fühlte sich von einer ungewöhnlichen Neugierde erfaßt.
    »Werden Sie es bringen?« fragte er.
    »Ja, ganz leicht; ich werde sogleich fertig sein. Da haben Sie! Es ist ein Befehl.«
    Er reichte ihm den Zettel hin. Die Dechiffration lautete:
    »Heute ein großer Streich. Ziehen Sie die Grenzaufseher möglichst zu sich hinüber.«
    »Ein Streich also!« meinte Wilhelmi. »Ach so! Also darum hat man allemal von einer bedeutenden Schmuggelei gehört, wenn ich einen Brief zu besorgen gehabt hatte.«
    »Haben Sie das wirklich beobachtet?«
    »Stets.«
    »Wie lange dienen Sie dem Waldkönige?«
    »Ich habe ihm ungefähr zehn bis zwölf Briefe besorgt.«
    »Und darauf hat es allemal ein bedeutenderes Unternehmen gegeben? Der Waldkönig fängt das gar nicht so übel an. Das wundert mich beinahe, da er doch sonst keineswegs unter die Schlauköpfe zu zählen ist.«
    »Nicht? O, da beurtheilen Sie ihn falsch. Er ist listiger als ein Fuchs!«
    »Pst, pst! Wenn das ein Fuchs hörte, würde er es Ihnen sehr übel nehmen, da es für ihn die größtmöglichste Beleidigung ist. Der Pascherkönig ist ein Dummkopf! Aber bitte, sprechen wir zunächst von Ihren Verhältnissen! Ich hoffe, daß Sie Vertrauen zu mir haben?«
    »Gewiß. Dennoch aber muß ich mir eine Frage erlauben.«
    »Fragen Sie nur immerzu!«
    »Wird es mir nicht schaden, wenn ich offen mit Ihnen bin?«
    »Wie sollte es Ihnen schaden?«
    »Ich habe für den Pascherkönig Briefe ausgetragen; das ist doch wohl strafbar!«
    »Und da denken Sie, ich könnte davon sprechen oder gar Sie anzeigen?«
    »Ich wollte Sie bitten, das nicht zu thun.«
    »O nein, das fällt mir gar nicht ein! Sie befinden sich in Noth; ich werde der Fürst des Elendes genannt; ich will Sie diesem Elende entreißen, und das erreiche ich doch nicht damit, daß ich Sie zur Anzeige und Bestrafung bringe.«
    »Wenn das so ist, dann will ich Alles, Alles thun, was Sie von mir verlangen!«
    »Gut! So machen Sie mich zunächst mit Ihren Verhältnissen bekannt, Herr Wilhelmi.«
    Der Musterzeichner kam dieser Aufforderung nach. Er erzählte von sich und von seiner Familie, und kam dann auch auf seinen Bruder zu sprechen. Arndt hörte ihm still bis zu Ende zu, gab ihm dann die Hand und sagte: »Sie sind ganz der Mann, wie ich Sie gleich von Anfang an beurtheilt habe. Was Sie mir da sagen, ist mir ziemlich werthvoll. Ich muß Sie da auf etwas aufmerksam machen. Doch vorher die Frage: Wissen Sie, was für ein Schloß die Kellerthür Ihres Bruders hat?«
    »Nein.«
    »Sie waren nie in diesem Keller?«
    »O, sehr viele Male!«
    »Nun, so müssen Sie doch auch das Schloß kennen!«
    »Ich habe es mir niemals genau betrachtet.«
    »Das ist auch nicht nöthig. Ich möchte nur wissen, ob es ein Kastenschloß oder ein Hängeschloß ist.«
    »Ein Kastenschloß.«
    »Das genügt. Und Ihr Bruder hat den Schlüssel bereits an den Waldkönig abgegeben?«
    »Ja.«
    »Das ist mir gar nicht lieb.«
    »Warum?«
    »Weil ich mir den Keller gern einmal angesehen hätte.«
    Da schien der Musterzeichner sich auf etwas zu besinnen.
    »Was das betrifft, so hat es keine Noth,« sagte er. »Es fällt mir ein, daß ein früherer Knappe den Keller mit dem

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