Der Verrat
nach Tokio sehnte, nach etwas, das ich dort einmal gehabt hatte, obwohl ich es damals nicht richtig zu schätzen wusste.
Es war seltsam, dass Tokio plötzlich meine Gedanken beherrschte, denn während ich dort lebte, hatte ich die Stadt nie als mein Zuhause betrachtet. Seltsam war auch, dass die Erinnerungen, die bei meinem letzten Besuch in mir aufgestiegen waren, alle mit Midori zu tun hatten, obwohl ich einen Teil meiner Kindheit und fünfundzwanzig Jahre meines Erwachsenenlebens in der Stadt verbracht hatte.
Tja, vielleicht konnte für mich ein Zuhause nur das eine sein – ein Ort, den ich vermissen würde, wenn ich weiterziehen musste. Bei der Liebe war es anscheinend genauso. Denn die Frau, die ich liebte, war die Frau, die ich nicht haben konnte.
Das Besondere an Tokio, so wurde mir nach Kwai Chung klar, war für mich gewesen, dass es mir immer das Gefühl gab, dort etwas finden zu können, was die Leere in mir füllen würde. Die Antwort auf eine Frage, die ich gar nicht richtig formulieren konnte. Doch was auch immer das war – falls es überhaupt existierte –, es war mir entglitten, hatte mich enttäuscht. Es nahm, ohne etwas zurückzugeben.
Jetzt jedoch begriff ich, dass ich deswegen nicht aufhören sollte, danach zu suchen. Ich empfand das Leben nach Kwai Chung wie eine Gnadenfrist, wie eine zweite Chance. Es wäre eine Verschwendung gewesen, nichts daraus zu machen.
Ich wusste nicht genau, wie lange ich noch in Rio bleiben würde. Aber ich wusste genauso wenig, wo ich sonst hin sollte. Ich fühlte mich wie ein Papierdrachen, dessen Schnur plötzlich durchtrennt worden war: einen Moment lang berauschend frei, nur um dann den Aufwind zu verlieren, der ihn in die Höhe getragen hat, und zurück zur Erde zu stürzen.
Ich musste diese Schnur wiederfinden. Aber ich wusste nicht, wo ich danach suchen sollte.
Natürlich war da noch immer Naomi. Manchmal spielte ich mit dem Gedanken, sie zu besuchen. Aber ich tat es nie. Vielleicht kam sie langsam über das Ende unserer Beziehung hinweg. Vielleicht hatte sie ihr Leben im Griff. Ich wollte es ihr nicht schwerer machen. Vor allem wollte ich nicht, dass ihr der Kontakt zu mir irgendwie schaden oder noch schlimmere Folgen für sie haben könnte.
Dennoch, es gab Nächte, da lag ich im Bett und hörte mir De Mais Ninguén und andere Stücke an, die sie in ihrer Wohnung aufgelegt hatte, wenn wir uns dort liebten. Dann war der Gedanke daran, wie nah sie doch war, beinahe unerträglich.
Ich dachte auch an Delilah. Ich fragte mich, wie die Dinge für sie gelaufen waren. Ich fragte mich, wie viel von dem, was sie mir erzählt hatte, wahr gewesen war. Ich merkte, dass ich ihr glauben wollte. Ich wollte glauben, dass zwischen uns etwas gewesen war, oder etwas hätte sein können, und ich fand meine Reaktion jämmerlich und irgendwie töricht.
Ja, aber denk an Dox. Der hat dich wirklich überrascht.
Oh ja, das hatte er. Aber nicht genug, um meine gesamte Einschätzung der menschlichen Natur umzukehren.
Ich war seit ungefähr zwei Monaten wieder zurück, als ich auf einem meiner Bulletin Boards eine Nachricht erhielt. Sie lautete: »Ich mache in einer wunderbaren Stadt Urlaub. Jeden Morgen gehe ich an ihrem berühmtesten Strand schwimmen. Dem älteren Strand, der nördlicher liegt. Ich wünschte, du könntest dabei sein.«
Es war das Bulletin Board, das ich mit Delilah benutzt hatte, Passwort Peninsula. Außer ihr wusste niemand davon.
Ich starrte lange auf den Text. Dann, ohne überhaupt richtig zu merken, dass ich eine Entscheidung getroffen hatte, fing ich an, eine Tasche zu packen.
Am selben Abend stieg ich im Copacabana Palace Hotel ab, Rios elegantestes Haus, das direkt an dem Strand liegt, dem es seinen Namen verdankt. Ich nahm ein Zimmer mit Meerblick im fünften Stock. Ich hatte ein Fernglas dabei – nicht ganz die Qualität des Zeiss-Modells, das ich ihn Kwai Chung benutzt hatte, aber es reichte, um den Ozean zu beobachten. Oder den Strand.
Ich schlief schlecht. Bei Sonnenaufgang begann ich, Ausschau zu halten. Um zehn Uhr tauchte sie auf.
Sie trug einen dunklen Tangabikini, blau, fast nachtblau. Es wäre ein Verbrechen gewesen, wenn sie etwas anderes angezogen hätte.
Sie schwamm etwa zwanzig Minuten, dann legte sie sich zum Sonnen auf ein Handtuch. Sie schien allein zu sein, aber der Strand füllte sich allmählich. Daher konnte ich mir unmöglich sicher sein.
Ich sagte mir, dass sie keinerlei Grund hatte, mir eine Falle stellen zu wollen.
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