In Santiago sehen wir uns wieder
Prolog
Eines Morgens wachte ich auf. Meine Füße waren auf seltsame Weise neugierig. Unruhig scharrten sie unter der Bettdecke und schrien: »Lass uns heraus.« Verwundert stand ich auf öffnete die Fensterläden und fragte: »Wo wollt ihr hin?« Aber sie waren schon unterwegs, nackt und ungewaschen. »So haben wir nicht gewettet«, rief ich hinter ihnen her. »Halt uns nicht auf, wir wollen nach... « Meine Augen folgten ihnen nach Westen. Der scharfkantige Betonblock von gegenüber zwang meinen Blick nach Südwesten. Regenwolken zogen über den blauen Morgenhimmel. Wind, Wasser, Regen, Regen aus der Ferne, Regen vom Meer. »Richtig geraten, weiter so«, sagten meine Füße und gingen weiter, gen Westen, gen Süden, gen Westen, gen Süden, auf Wegen und Pfaden, über Straßen und Brücken, bergauf und bergab. »Wartet«, schrie ich und meine Augen füllten sich mit Tränen,»nehmt mich mit, wie soll ich ohne euch?« Aber meine Füße ließen sich nicht aufhalten. Ich schüttelte die Kopfkissen aus und legte sie auf den Wäscheständer im Garten. »Wir sind auf dem Sternenweg. Sternenweg wie Sterntaler«, riefen sie, als sie bei Mulhouse die Brücke über den Rhein passierten. Sternenweg, Sterntaler, Süden, Westen, Frankreich - und diese Eile - ich verstand noch immer nicht. Die Elstern auf dem Dachfirst schimpften krächzend. Erschöpft legte ich mich in den Liegestuhl unter dem alten Haselnussbaum. Ein Eichhörnchen turnte leichtfüßig in den jungen Morgen hinein. »Verstehst du, was hier geschieht?«, fragte ich. Die Helligkeit des Himmels blitzte zwischen den maigrünen Blättern hindurch. Meine Füße hatten inzwischen Frankreich durchquert, waren über die Pyrenäen geklettert und eilten nun ohne anzuhalten durch Nordspanien nach Westen. Das letzte, was ich verstehen konnte, waren ihre Worte: »In Santiago sehen wir uns wieder... «
Warum nicht schon längst ist mein Bündel geschnürt, der Riemen gegürtet, die Schere im Feuer verbrannt? Warum nicht schon längst sind die Schuhe geölt, die Türen verrammelt, der Schein zerstört, die Fassade gesprengt und die Ratten vergiftet. Warum nicht schon längst bin ich gegangen, gegangen, gegangen...?
Ich stand auf und goss die Blumen auf der Terrasse. Im Gipsmischtopf war eine Seerosenknospe über Nacht durch die Oberfläche des Wassers gestoßen. Eine Biene versuchte, sich aus den Fängen des Wohnzimmervorhangs zu befreien. Als sie es mit meiner Hilfe geschafft hatte, verabschiedete sie sich summend in ihre Freiheit. Und dann? Ja dann... folgte ich dem Ruf meiner Füße und betrat den Weg. Ich brach auf ins Offene, dorthin, wo die Abendsonne hinter schimmernden Fassaden untergeht und ein Heiliger seit Jahrtausenden Wache hält. Mein Weg in die Goldene Stadt hatte begonnen.
Die Vorbereitung
❖
»Das Gehen wird Ihnen gut tun, Sie sind für Bewegung gebaut«, sagt mein Krankengymnast. »Ich weiß«, seufze ich und denke an die Masseurin in der Schwarzwälder Kurklinik, die meine Hände pflegte und sagte: »Das mit den Behandlungen machen Ihre Hände auch nicht mehr fünf Jahre.«
»Was, nach Santiago wollen Sie?« Entsetzt schaut mich mein Zahnarzt an. »Nicht de Chile, de Compostela, Nabel der Welt.« - »Etwa zu Fuß?« Er klingt deutlich erleichtert. »Hm, da sind Sie ja... das dauert doch mindestens...« - »Ja, mindestens 850 km, mal sehen, es gibt auch Busse, aber eigentlich soll es schon zu Fuß sein.« - »Dann nehmen Sie doch Inlineskates, da geht’s schneller, oder ein Mountainbike.« - »Es geht ums Gehen, es soll ja eine Erfahrungsreise sein, wie die Pilger im Mittelalter.« - »Oh, das wäre nichts für mich, ich muss immer etwas tun... « Er schaut mein entzündetes Zahnfleisch an. »So, die Kanülen zum Spülen Ihres Zahnfleischs nehmen Sie mit, und wenn es Probleme gibt, rufen Sie an. Ich hole Sie mit meinem Flugzeug.« Langsam stehe ich auf - verdammt bequem ist so ein Zahnarztstuhl. Ein Glück, dass die beiden Implantate von vor ein paar Jahren die letzten Schrauben für das Flugzeug des Herrn Zahndoktors eingebracht haben, denke ich, und er sagt: »Vielleicht kommen Sie nie wieder und machen ganz was anderes...«.
»Gott segne Sie«, sagt der Nachbar, als wir noch einmal durch das elterliche Haus gehen. Ich erschrecke, es wird ernst, und der Pfad, dem ich folgen werde, ist ein christlicher Pfad. Wie aber, wenn mir der Christus abhanden gekommen wäre im Laufe der Jahre? »Der Christus, der fehlt mir an dir«, sagt
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