Der Verrat
Plötzlich schoss zwischen den Kiefern auf der gegenüberliegenden Seite des Teichs eine Gestalt hervor. Es war Fürstin Yanagisawa. Ihr Gesicht war vor Qual bis zur Unkenntlichkeit verzerrt. Ihre grauen Kleider flatterten hinter ihr her, als sie mit unsicheren Schritten zum Teich eilte.
»Hör auf, Kikuko-chan!«, rief sie.
Das kleine Mädchen hob den Blick, erkannte die Mutter und runzelte verdutzt die Stirn. Masahiros Anstrengungen erlahmten. Reiko und Fürstin Yanagisawa sprangen in den Teich. Das kalte Wasser drang durch Reikos Kleidung und ließ sie schaudern, ihre Füße versanken im breiigen Schlamm. Fürstin Yanagisawa ergriff Kikukos Arme und zog sie von Masahiro weg. Mutter und Tochter verloren das Gleichgewicht und fielen ins Wasser, als Reiko Masahiro erreichte.
Er lag bäuchlings auf dem Grund des Teichs und rührte sich nicht. Seine helle Kleidung schimmerte durch das trübe Wasser, und seine ausgebreiteten Arme und Beine trieben erschlafft über dem schlammigen Grund.
»Oh nein! Nein!«, jammerte Reiko.
Sie hob ihren Sohn in die Arme und trug den nassen, seltsam schweren Körper ans Ufer. Fürstin Yanagisawa folgte mit Kikuko. Mutter und Tochter brachen am trockenen Ufer zusammen und beobachteten Reiko, die ihren Sohn auf den Rücken legte.
»Masahiro!«, rief sie verzweifelt.
Die Augen des Jungen waren geschlossen, seine Lippen erschlafft, die Haut blass. Kein Laut drang über seine Lippen, und er regte sich nicht. Reiko schüttelte Masahiro verzweifelt und drückte die Hände auf seinen Leib. Aus seinem Mund strömte Wasser. Plötzlich hustete er und krümmte sich. Er blinzelte, schlug die Augen auf und schaute Reiko an. Dann begann er zu weinen.
Die überglückliche Reiko stieß vor Freude und Erleichterung einen Jubelschrei aus. Sie hob Masahiro hoch und schlang ihren Umhang um seinen kalten, zitternden Körper. »Es ist alles wieder gut«, besänftigte sie ihn. Tränen liefen ihr über die Wangen. Sie schaute über den Kopf ihres Sohnes hinweg zu der Frau, deren Tochter Masahiro beinahe getötet hätte.
Fürstin Yanagisawa schmiegte sich an Kikuko. »Es tut mir schrecklich Leid«, sagte sie leise und voller Betroffenheit. »Ich habe Kikuko hierher gebracht, damit sie mit Masahiro spielen kann. Bitte glaubt mir, dass ich niemals auf den Gedanken gekommen wäre, so etwas könnte passieren. Und Kikuko … sie weiß es nicht besser.«
Doch diese Entschuldigungen konnten nicht aus der Welt schaffen, was Reiko sah: Fürstin Yanagisawa hatte den Tod des Jungen gewollt. Dass er beinahe ertrunken wäre, war kein Unfall gewesen. Die Fürstin hatte die Hausmädchen außer Gefecht gesetzt und Kikuko hierher zum Teich geschickt, damit sie Masahiro ertränkte. Dass die Fürstin ihre Meinung offenbar im letzten Augenblick geändert hatte, entband sie nicht von ihrer Schuld.
»Könnt Ihr mir jemals vergeben?«, fragte die Fürstin mit ängstlicher, flehender Stimme.
Reikos Misstrauen gegenüber Fürstin Yanagisawa war also berechtigt gewesen. Ihre Instinkte hatten sich als zuverlässig erwiesen. Obwohl Reiko nur vermuten konnte, warum die Frau Masahiro töten wollte, wusste sie nun mit ziemlicher Sicherheit, dass Fürstin Yanagisawa ihre Feindin war.
»Geht«, befahl Reiko mit vor Zorn bebender Stimme.
Als Hiratas Rufe vor der Lagerhalle erklangen, verharrte Himmelsfeuers Hand, die zum Hieb auf Wisterie ansetzte, in der Luft. Sano, der zum Sprung auf den Verbrecher ansetzte, erstarrte mitten in der Bewegung. Wisterie kauerte auf allen vieren und schützte mit den Armen ihren Kopf. Vorsichtig hob sie den Blick. Sano hielt den Atem an, im Lagerhaus herrschte wieder Stille.
»Himmelsfeuer!«, rief Hirata dann noch einmal. » Sōsakan-sama !«
Sano sah, dass die Wut Himmelsfeuers sich legte. Ein Ausdruck der Genugtuung erhellte seine Züge, als er sich daran erinnerte, dass sein erstes Ziel die Flucht war und weil die Mittel für diese Flucht nun bereitstanden. Der Verbrecher ließ seine Waffe sinken, packte Wisterie am Kragen und riss sie hoch. Er wich von Sano zurück, lief zur Vorderseite des zweiten Stockwerks und zerrte Wisterie hinter sich her.
»Ihr kommt ebenfalls mit«, befahl er Sano. »Falls Ihr irgendwelche Dummheiten versucht, töte ich das Weib.«
Als Sano Himmelsfeuer folgte, dachte er angestrengt darüber nach, wie er den Mann überwältigen könnte.
»Öffnet das Fenster«, befahl Himmelsfeuer, und Sano gehorchte. Das schwindende Tageslicht fiel ins Lagerhaus; eisiger Wind
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