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Der vierzehnte Stein

Der vierzehnte Stein

Titel: Der vierzehnte Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
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schräg in seinen Bürosessel, blies in seinen Kaffee und richtete den Blick auf die Pinnwand, an der Berichte, dringliche Vorhaben und, in der Mitte, eine Notiz mit den Zielen der Quebec-Mission angeheftet waren. Drei Blätter, mit drei roten Reißzwecken ordentlich nebeneinander festgesteckt. Genetische Fingerabdrücke, Schweiß, Pisse und Computer, Ahornblätter, Wälder, Seen, Karibus. Morgen würde er den Dienstreiseauftrag unterschreiben, und in einer Woche würde er abheben. Er lächelte und nahm einen Schluck Kaffee, in Gedanken ruhig und sogar glücklich.
    Plötzlich spürte er, wie ihm erneut kalter Schweiß in den Nacken trat, wie dieselbe Beklemmung ihn wieder umschloß und die Krallenkatze ihm auf die Schultern sprang. Er krümmte sich unter dem Schock und stellte vorsichtig seinen Becher auf den Tisch. Zweites Unwohlsein in nur einer Stunde, unbekannte Störung, wie ein Fremder, der unerwartet eintritt und ein heftiges Erschrecken auslöst, einen Alarm. Er zwang sich aufzustehen, ein paar Schritte zu tun. Abgesehen von diesem Schock, diesem Schweißausbruch, reagierte sein Körper ganz normal. Er legte die Hände aufs Gesicht, dehnte die Haut, massierte sich den Nacken. Ein Unwohlsein, eine Art Abwehrkrise. Ein Anfall von großer Not, die Ahnung von etwas Bedrohlichem, unter dem der Körper sich spannt. Und zurück blieb, nun, da er sich wieder problemlos bewegen konnte, ein unsagbares Gefühl von Trauer, wie ein trüber Bodensatz, den die wegströmende Welle hinterläßt.
    Er trank seinen Kaffee aus und stützte das Kinn in die Hand. Es war schon bei manchen Gelegenheiten vorgekommen, daß er sich selbst nicht verstand, aber dies war das erste Mal, daß er sich entglitt. Das erste Mal, daß er ein paar Sekunden lang taumelte, so als habe ein blinder Passagier sich an Bord seines Wesens geschlichen und das Ruder übernommen. Denn dessen war er sich sicher: Es gab einen blinden Passagier an Bord. Ein vernünftiger Mensch hätte ihm die Absurdität einer solchen Vorstellung vor Augen geführt und seine plötzliche Benommenheit mit einem Anflug von Grippe erklärt. Doch Adamsberg erkannte etwas ganz anderes darin, er spürte, daß ein gefährlicher Unbekannter, der es nicht gut mit ihm meinte, für einen Augenblick in ihn eingedrungen war.
    Er öffnete seinen Schrank und holte ein altes Paar Turnschuhe heraus. Spazierengehen oder träumen, das allein würde diesmal nicht reichen. Er würde rennen müssen, stundenlang, wenn nötig, zur Seine hinunter und dann immer weiter. Vielleicht würde er bei diesem Lauf seinen Verfolger abhängen, ihn auf dem Fluß aussetzen oder, warum nicht, auch auf jemand anderem.

3
    Gelöst, erschöpft und geduscht, beschloß Adamsberg, sein Abendessen in den Schwarzen Wassern von Dublin einzunehmen, einer dunklen Bar mit geräuschvoller Atmosphäre und erfüllt von säuerlichem Geruch, wo er schon manchen seiner Spaziergänge beschlossen hatte. Dieser Ort, der ausschließlich von Iren bevölkert war, und er verstand kein Wort Irisch, besaß den einzigartigen Vorteil, menschliche Wärme und Geschwätz in Fülle und doch gleichzeitig absolute Einsamkeit zu bieten. Er fand dort seinen von Bier verklebten Tisch vor, die guinnessgeschwängerte Luft und die Kellnerin Enid, bei der er Schweinebraten mit Kartoffeln bestellte. Enid servierte das Essen mit einer langen alten Zinngabel, die Adamsberg sehr mochte mit ihrem abgeriebenen Holzgriff und den drei unregelmäßigen Zinken. In dem Moment, wo sie das Fleisch auf den Teller legte, tauchte der Eindringling mit der Brutalität eines Vergewaltigers von neuem auf. Diesmal meinte Adamsberg seinen Überfall den Bruchteil einer Sekunde zuvor erkannt zu haben. Die Fäuste auf dem Tisch verkrampft, versuchte er ihm Widerstand zu leisten, er spannte seinen Körper, rief andere Gedanken in sich wach, stellte sich rote Ahornblätter vor. Doch umsonst, das Unheil fuhr durch ihn hindurch, wie ein Tornado ein Feld verwüstet, schnell, unaufhaltsam und mit großer Gewalt. Um gleich darauf von seiner Beute abzulassen und sein Werk woanders fortzusetzen.
    Als er seine Hände wieder strecken konnte, griff er nach dem Besteck, war aber unfähig, sein Essen anzurühren.
    Die Trauer, die der Tornado zurückgelassen hatte, nahm ihm den Appetit. Er entschuldigte sich bei Enid und ging auf die Straßen hinaus, wo er ziellos und unschlüssig umherlief. Sein Großonkel fiel ihm ein, der sich, wenn er krank war, in einer Felsenkuhle der Pyrenäen

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