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Die Schatten eines Sommers

Die Schatten eines Sommers

Titel: Die Schatten eines Sommers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lia Norden
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    FABIENNE
    «Sommer der Sünde» … Da hatte Hanna mit ihrem neuen Buch offensichtlich voll ins Schwarze getroffen. Ihr Roman war in den letzten Wochen auf den Bestsellerlisten so weit nach oben geklettert, dass es mich einige Mühe gekostet hatte, ihn zu ignorieren. Normalerweise beachte ich solche Bücher nicht. Ich gehöre zu den Menschen, die sich nichts aus Romanen machen. Ich lese gerne Biographien, vor allem von Menschen, die etwas bewegt haben. Und wenn es mich nach Sex and Crime gelüstet, dann blättere ich in der Bibel, im Alten Testament. Tatsächlich. Doch das Interview mit Hanna füllte eine halbe Seite im
Hamburger Abendblatt
, und obwohl der Titel mehr nach einem schlechten Parfüm als nach einem guten Buch klang, war meine Neugier geweckt worden.
    «Hanna Nielsen über ihren neuen Roman, eine vielschichtige Sommerlektüre, die sich zu einem erotischen Thriller entwickelt.» So die Bildunterschrift zu einem Foto, auf dem Hanna mindestens zehn Jahre jünger wirkte, als sie wohl tatsächlich aussah, wie ich vermutete. Ich hatte sie seit über fünfundzwanzig Jahren nicht gesehen.
    «In einem Roman ist alles möglich. Das ist ja das Großartige am Schreiben – ich erfinde die Wirklichkeit. Ich muss keine Rücksicht nehmen auf all diese Zwänge: Vorsicht, Mäßigung, Umsicht … Schreiben heißt Hemmungslosigkeit ohne Konsequenzen. Ich bin frei, einfach frei!»
    «Einfach frei sein …» Ja, das war typisch Hanna! Ich konnte mir gut vorstellen, dass Vorsicht und Rücksicht für Hanna Fremdwörter waren. Sie schien sich moralisch nicht grundlegend geändert zu haben.
    Ich hatte die Zeitung zur Seite geworfen, mir einen Eistee gemacht und mich damit aufs Korbsofa in den Wintergarten gesetzt, den schönsten Platz in diesem alten Kasten, in dem ich nun seit fast einem Jahrzehnt wohnte. Ein dreihundert Jahre altes Fachwerkhaus, das ich von oben bis unten saniert hätte, wenn es mein eigenes gewesen wäre. Aber in ein Pfarrhaus steckt man kein Geld, nach ein paar Jahren wird man womöglich versetzt und zieht in einen anderen alten Kasten. Ich hätte es gerne wirklich besessen, dieses Haus.
    Mit dem Blick hinaus in meinen üppig blühenden Garten hatte ich versucht, mich auf die Predigt zu konzentrieren, die ich am nächsten Sonntag halten wollte. Es sollte etwas werden über Sommer, Sonne,
Geh aus, mein Herz, und suche Freud
. Schließlich hatten wir Mitte Juni, den dritten Sonntag nach Trinitatis. Aber meine Gedanken hatten sich nicht zwingen lassen. Hannas hochtrabende Sätze waren mächtiger gewesen. Sie hatte mich am Haken gehabt, genau wie früher, selbst nach all den Jahren.
    «Hemmungslosigkeit ohne Konsequenzen» … Sie war also immer noch naiv wie ein Schulmädchen. Alles hat Konsequenzen, da braucht sich niemand etwas vorzumachen, liebe Hanna. Du zahlst immer einen Preis, Auge um Auge, Zahn um Zahn. Und wenn du nicht selbst bezahlst, muss ein anderer für dich die Rechnung übernehmen.
    Es war heiß gewesen an diesem Freitagnachmittag. Ich hatte nur ein dünnes Baumwollkleid an, das ich in einer indischen Boutique gekauft hatte, aber der Schweiß rann mir trotzdem zwischen den Schulterblättern hinunter. Ich nahm meinen Predigttext, um mich damit in den Garten zu setzen. Doch das Zeitungsinterview ließ mich nicht los. Was hatte Hanna gemeint? Welchen Sommer beschrieb sie mit ihrem abgeschmackten, allzu platten Titel? «Sommer der Sünde»! Als ob ausgerechnet Hanna begreifen könnte, was der tiefe Stachel der Sünde wirklich bedeutet.
    Ich hatte den Predigttext auf dem Gartentisch liegen lassen, war zum Schuppen gegangen und hatte mein Fahrrad herausgeholt. Bis zu unserem Buchladen waren es nur ein paar Minuten. Ich konnte ja wohl davon ausgehen, dass ich Hannas Buch selbst in unserem kulturell unterversorgten Hamburger Vorort bekam. Immerhin war es ein Verkaufsschlager.
    «Was zählt, ist die Story, das Buch, aber natürlich freue ich mich über den Erfolg: fünfzigtausend Exemplare in den ersten drei Monaten. Hammerhart, oder?» Wortwörtlich war bei mir hängengeblieben, was sie dem Interviewer in die Feder diktiert hatte.
    Ja, hammerhart. So hart wie Hanna. Ein paar Stunden später hatte ich mit schmerzenden Nackenmuskeln in meinem Korbsessel gesessen. Es dämmerte schon, die blaue Stunde, durch die offenen Fenster kam kühler Abendwind, der Duft der Lavendelbeete vor meinem Wintergarten füllte die Luft. Ich hielt das Buch in den Händen, und ich fror. Hanna Nielsen,

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