Der Vorleser (Diogenes Taschenbuch, 22953) (German Edition)
Arbeitszimmers und wurden hereingerufen.
Ich habe zwei Arbeitszimmer meines Vaters erlebt. Die Fenster des ersten, in dem Hanna die Bücher mit dem Finger abgeschritten hat, gingen auf Straßen und Häuser. Die des zweiten gingen auf die Rheinebene. Das Haus, in das wir Anfang der sechziger Jahre gezogen und in dem meine Eltern wohnen geblieben sind, als wir Kinder groß waren, lag über der Stadt am Hang. Hier wie dort weiteten die Fenster den Raum nicht in die Welt draußen, sondern hängten diese in das Zimmer wie Bilder. Das Arbeitszimmer meines Vaters war ein Gehäuse, in dem die Bücher, Papiere, Gedanken und der Pfeifen- und Zigarrenrauch eigene, von denen der Außenwelt verschiedene Druckverhältnisse geschaffen hatten. Sie waren mir zugleich vertraut und fremd.
Mein Vater ließ mich mein Problem präsentieren, in der abstrakten Fassung und mit den Beispielen. »Es hat mit dem Prozeß zu tun, nicht wahr?« Aber er schüttelte den Kopf, um mir zu bedeuten, daß er keine Antwort erwarte, nicht in mich dringen, von mir nichts wissen wolle, was ich nicht von mir aus sagte. Dann saß er, den Kopf zur Seite geneigt, mit den Händen die Armlehnen festhaltend, und dachte nach. Er sah mich nicht an. Ich betrachtete ihn, sein graues Haar, seine wie immer schlecht rasierten Backen, die scharfen Falten zwischen den Augen und von den Nasenflügeln zu den Mundwinkeln. Ich wartete.
Als er redete, holte er weit aus. Er belehrte mich über Person, Freiheit und Würde, über den Menschen als Subjekt und darüber, daß man ihn nicht zum Objekt machen dürfe. »Erinnerst du dich nicht mehr, wie es dich als kleinen Jungen empören konnte, wenn Mama besser wußte als du, was für dich gut war? Schon wieweit man das bei Kindern tun darf, ist ein wirkliches Problem. Es ist ein philosophisches Problem, aber die Philosophie kümmert sich nicht um die Kinder. Sie hat sie der Pädagogik überlassen, wo sie schlecht aufgehoben sind. Die Philosophie hat die Kinder vergessen«, er lächelte mich an, »für immer vergessen, nicht nur für manchmal, wie ich euch.«
»Aber …«
»Aber bei Erwachsenen sehe ich schlechterdings keinerlei Rechtfertigung dafür, das, was ein anderer für sie für gut hält, über das zu setzen, was sie selbst für sich für gut halten.«
»Auch nicht, wenn sie später selbst glücklich damit sind?«
Er schüttelte den Kopf. »Wir reden nicht über Glück, sondern über Würde und Freiheit. Schon als kleiner Junge hast du den Unterschied gekannt. Es hat dich nicht getröstet, daß Mama immer recht hatte.«
Heute denke ich gerne an das Gespräch mit meinem Vater zurück. Ich hatte es vergessen, bis ich nach seinem Tod begann, im Bodensatz der Erinnerung nach schönen Begegnungen, Erlebnissen und Erfahrungen mit ihm zu suchen. Als ich es fand, betrachtete ich es verwundert und beglückt. Damals war ich zunächst verwirrt von meines Vaters Mischung aus Abstraktion und Anschaulichkeit. Aber schließlich machte ich mir auf das, was er gesagt hatte, den Reim, daß ich nicht mit dem Richter reden mußte, daß ich gar nicht mit ihm reden durfte, und war erleichtert.
Mein Vater sah es mir an. »So gefällt dir die Philosophie?«
»Naja, ich wußte nicht, ob man in der Situation, die ich beschrieben habe, handeln muß, und war eigentlich nicht glücklich mit der Vorstellung, daß man muß, und wenn man nun gar nicht handeln darf – ich finde das …« Ich wußte nicht, was sagen. Erleichternd? Beruhigend? Angenehm? Das klang nicht nach Moral und Verantwortung. Ich finde es gut, klang moralisch und verantwortlich, aber ich konnte nicht sagen, daß ich es gut, daß ich es mehr als nur erleichternd fand.
»Angenehm?« schlug mein Vater vor.
Ich nickte mit dem Kopf und zuckte mit den Schultern.
»Nein, dein Problem hat keine angenehme Lösung. Natürlich muß man handeln, wenn die von dir beschriebene Situation eine Situation zugewachsener oder übernommener Verantwortung ist. Wenn man weiß, was für den anderen gut ist und daß er die Augen davor verschließt, muß man versuchen, ihm die Augen zu öffnen. Man muß ihm das letzte Wort lassen, aber man muß mit ihm reden, mit ihm, nicht hinter seinem Rücken mit jemand anderem.«
Mit Hanna reden? Was sollte ich ihr sagen? Daß ich ihre Lebenslüge durchschaut hatte? Daß sie drauf und dran war, ihr ganzes Leben dieser dummen Lüge zu opfern? Daß die Lüge das Opfer nicht wert war? Daß sie darum kämpfen sollte, nicht länger als nötig ins Gefängnis zu
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