Das Geheimnis der sieben Palmen
1
Das graulackierte Küstenwachboot der Marine von Ecuador näherte sich in langsamer, vorsichtiger Fahrt der Insel. Unten, im Sonarraum des Schiffes, reflektierten laut die Korallenriffe und Felsenspitzen aus Lavagestein die ausgeschickten Ortungsstrahlen. Auf den Radarbildschirmen flimmerten sie als bizarre, phosphoreszierende Gebilde. Die rumpelnden Maschinen liefen auf äußerste Drosselung; es war ein Anschleichen und Durchschleichen durch eine Unterwasserlandschaft, die jeder, der sie zum erstenmal sieht, faszinierend nennt – nur die Seeleute nicht, die auf jedes kratzende Geräusch am Rumpf ihres Schiffes lauschten.
Der Leitende Ingenieur im Peilraum meldete mit drängender Stimme an die Brücke zum Kommandanten: »Nur noch eine Viertelmeile, Captain, dann müssen wir stoppen, oder wir werden der Länge nach aufgeschlitzt!«
In diesem Augenblick sagte oben auf dem Austritt der Kommandobrücke ein Mann: »Genauso habe ich mir das vorgestellt!«
Der Mann trug eine gelbe Kunststoffjacke und einen alten verbeulten Hut aus Segeltuch. Er lehnte an der Reling und starrte hinüber zu dem Eiland, das wie ein schwach gewölbter, dunkler Schildkrötenrücken, wie ein horniger Panzer, aus dem heute nur schwach bewegten Ozean ragte. Ganz deutlich konnte man, jetzt schon ohne Fernglas, sieben in einer Gruppe stehende lange, schlanke Palmen erkennen, mit vom Wind zerzausten Blättern und zur Küste hin leicht gebogenen Stämmen.
»Genauso!« wiederholte der Mann, nahm den Segeltuchhut ab und ließ den Meerwind durch sein braunes, an den Schläfen schon grau werdendes Haar wehen. »Die sieben Palmen!«
Er warf einen Seitenblick auf den Kommandanten des Küstenwachbootes, der sein Schiff jetzt im fast motorlosen Schleichen über die unsichtbaren Unterwasserklippen gleiten ließ. Der Kapitänleutnant war ein erfahrener Seemann; seine Leute nannten ihn nur ›Don Fernando‹. Er kannte die Küste Ecuadors und diesen ganzen Archipel wie den Körper seiner Frau Juanita. (Hier sei angemerkt, daß es keinen Mann gibt, der den Körper seiner Frau ganz genau kennt!)
»Halten Sie mich noch immer für verrückt, Don Fernando?«
»Ja!«
Der Kapitän ließ das Boot stoppen. Aus dem Sonarraum war die Meldung gekommen: »Weiterfahrt unmöglich. Vulkanische Felsklippen und Korallenbänke erreichen unseren Tiefgang.« Man konnte es von oben sehen: Im klaren, blauen Wasser ragte die Barriere der Korallen bis unter die Wasseroberfläche. Einige bizarre Felszacken durchbrachen wie dicke Nadeln den Ozean; weiter zur Insel hin schäumte die See gischtend gegen eine dreifache Mauer aus farbig, in Gelb, Rot und Schwarz erstarrter Lava. Irgendwo – das hatte man von einem Hubschrauber aus fotografiert – gab es dort einen engen Einschlupf bis zu dem halbrunden Strand einer Bucht. Ein Strand, vielleicht dreißig Meter breit und tief, aus gelbgrauem verwittertem Vulkansand, in Jahrmillionen durch Wind und Wasser pulverfein gemahlen. Eine Küste aus Bimssand – und dahinter offenbar nichts als kahler, zerklüfteter, von Erosionen zerfressener Fels, in unbekannter Zeit einmal feuerflüssig aus dem Meer gespien, dann erstarrt. Überrest aus den Tagen der Schöpfung.
Aber oben, auf der Höhe dieses Felsrückens, der aussah wie der abgeworfene Rückenpanzer einer Riesenechse, grünten Flechten und Farne, kleine Mangroven und niedliche Buschwälder, und mitten darin stand die Gruppe der sieben hohen, schlanken Palmen.
»Ich halte Sie nicht für verrückt, Don Philipp«, sagte Don Fernando ruhig, »sondern sogar für einen Menschen, den man mit Gewalt zurückhalten sollte, mein Schiff zu verlassen! Es gibt kein Ende der Welt, denn die ist bekanntlich rund – aber das hier ist wohl der einsamste Punkt, den ich kenne. Überlegen Sie's noch einmal! Ein Wort, und wir drehen sofort ab.«
»Lassen Sie die Barkasse zu Wasser, Don Fernando. Ich habe mein Ziel erreicht: ›Die sieben Palmen‹. Ich bin begeistert! Was wollen Sie mehr vom Leben: ein eigenes kleines Land, Süßwasserquellen, Steine, aus denen man ein Haus bauen kann, Bäume, aus denen man Dächer und Möbel zimmern kann, Erde, auf der man sein tägliches Essen anpflanzen kann. Und dazu der Himmel mit Sonne, Regen und Wind, das Meer mit seinen Fischen und seiner ewigen Mahnung: Mensch, wie groß und mächtig kommst du dir vor – und bist doch nicht mehr als ein Sandkorn am Strand! Ruhe, Frieden, paradiesisches Leben! Keine Finanzbeamten, keine Gesetze, keine Diebe und Räuber, keine
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