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Der Vorleser (Diogenes Taschenbuch, 22953) (German Edition)

Der Vorleser (Diogenes Taschenbuch, 22953) (German Edition)

Titel: Der Vorleser (Diogenes Taschenbuch, 22953) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Schlink
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hinrichtet, nicht und richtet ihn doch hin. Weil es ihm befohlen wurde? Sie denken, daß er es tut, weil es ihm befohlen wurde? Und Sie denken, daß ich jetzt von Befehl und Gehorsam rede und davon, daß den Mannschaften in den Lagern befohlen wurde und daß sie gehorchen mußten?« Er lachte verächtlich. »Nein, ich rede nicht von Befehl und Gehorsam. Der Henker befolgt keine Befehle. Er tut seine Arbeit, haßt die nicht, die er hinrichtet, rächt sich nicht an ihnen, bringt sie nicht um, weil sie ihm im Weg stehen oder ihn bedrohen oder angreifen. Sie sind ihm völlig gleichgültig. Sie sind ihm so gleichgültig, daß er sie ebensogut töten wie nicht töten kann.«
    Er sah mich an. »Kein ›aber‹? Kommen Sie, sagen Sie, daß ein Mensch einem anderen so gleichgültig nicht sein darf. Haben Sie das nicht gelernt? Solidarität mit allem, was Menschenantlitz trägt? Würde des Menschen? Ehrfurcht vor dem Leben?«
    Ich war empört und hilflos. Ich suchte nach einem Wort, einem Satz, der das, was er gesagt hatte, auslöschen und ihm die Sprache verschlagen würde.
    »Ich habe einmal«, fuhr er fort, »eine Photographie von Erschießungen von Juden in Rußland gesehen. Die Juden warten nackt in einer langen Reihe, einige stehen am Rand einer Grube, und hinter ihnen stehen Soldaten mit Gewehren und schießen sie ins Genick. Das geschieht in einem Steinbruch, und über den Juden und Soldaten, auf einem Sims in der Wand, sitzt ein Offizier, läßt die Beine baumeln und raucht eine Zigarette. Er kuckt ein bißchen verdrießlich. Vielleicht geht es ihm nicht schnell genug voran. Er hat aber auch etwas Zufriedenes, sogar Vergnügtes im Gesicht, vielleicht weil immerhin das Tagwerk geschieht und bald Feierabend ist. Er haßt die Juden nicht. Er ist nicht …«
    »Waren Sie das? Haben Sie auf dem Sims gesessen und …«
    Er hielt an. Er war ganz bleich, und das Mal an seiner Schläfe leuchtete. »Raus!«
    Ich stieg aus. Er wendete so, daß ich einen Sprung zur Seite machen mußte. Ich hörte ihn noch in den nächsten Kurven. Dann war es still.
    Ich ging die Straße bergan. Kein Auto überholte mich, keines kam mir entgegen. Ich hörte Vögel, den Wind in den Bäumen, manchmal das Rauschen eines Bachs. Ich atmete erlöst. Nach einer Viertelstunde hatte ich das Konzentrationslager erreicht.

15
     
    Ich bin unlängst noch mal hingefahren. Es war Winter, ein klarer, kalter Tag. Hinter Schirmeck war der Wald verschneit, weiß bepuderte Bäume und weiß bedeckter Boden. Das Gelände des Konzentrationslagers, ein längliches Areal auf abfallender Bergterrasse mit weitem Blick über die Vogesen, lag weiß in der hellen Sonne. Das graublau gestrichene Holz der zwei- und dreistöckigen Wachtürme und der einstöckigen Baracken kontrastierte freundlich mit dem Schnee. Gewiß, da gab es das maschendrahtverhauene Tor mit dem Schild »Konzentrationslager Struthof-Natzweiler« und den um das Lager laufenden doppelten Stacheldrahtzaun. Aber der Boden zwischen den verbliebenen Baracken, auf dem ursprünglich weitere Baracken dicht an dicht gedrängt standen, ließ unter der glitzernden Schneedecke vom Lager nichts mehr erkennen. Er hätte ein Rodelhang für Kinder sein können, die in den freundlichen Baracken mit den gemütlichen Sprossenfenstern Winterferien machen und gleich zu Kuchen und heißer Schokolade hereingerufen werden.
    Das Lager war geschlossen. Ich stapfte durch den Schnee darum herum und holte mir nasse Füße. Ich konnte das ganze Gelände gut einsehen und erinnerte mich, wie ich es damals, bei meinem ersten Besuch, auf Stufen, die zwischen den Grundmauern der abgetragenen Baracken hinabführten, abgegangen war. Ich erinnerte mich auch an Krematoriumsöfen, die damals in einer Baracke gezeigt worden waren, und daran, daß eine andere Baracke ein Zellenbau gewesen war. Ich erinnerte mich an meinen damaligen vergeblichen Versuch, mir ein volles Lager und Häftlinge und Wachmannschaften und das Leiden konkret vorzustellen. Ich versuchte es wirklich, schaute auf eine Baracke, schloß die Augen und reihte Baracke an Baracke. Ich durchmaß eine Baracke, errechnete aus dem Prospekt die Belegung und stellte mir die Enge vor. Ich erfuhr, daß die Stufen zwischen den Baracken zugleich als Appellplatz dienten, und füllte sie beim Blick vom unteren zum oberen Ende des Lagers mit Reihen von Rücken. Aber es war alles vergeblich, und ich hatte das Gefühl kläglichen, beschämenden Versagens. Bei der Rückfahrt fand ich weiter unten

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