Der Vorleser (Diogenes Taschenbuch, 22953) (German Edition)
müssen, um danach noch viel mit ihrem Leben anzufangen? Was eigentlich? Ob viel, etwas oder wenig – was sollte sie mit ihrem Leben anfangen? Konnte ich ihr ihre Lebenslüge wegnehmen, ohne ihr eine Lebensperspektive zu eröffnen? Ich wußte keine langfristige, und ich wußte auch nicht, wie ich ihr gegenübertreten und sagen sollte, es sei schon richtig, daß nach dem, was sie getan hatte, ihre Lebensperspektive kurz- und mittelfristig Gefängnis heißen würde. Ich wußte nicht, wie ich ihr gegenübertreten und irgend etwas sagen sollte. Ich wußte überhaupt nicht, wie ich ihr gegenübertreten sollte.
Ich fragte meinen Vater: »Und was ist, wenn man nicht mit ihm reden kann?«
Er sah mich zweifelnd an, und ich wußte selbst, daß die Frage neben der Sache lag. Es gab nichts mehr zu moralisieren. Ich mußte mich nur noch entscheiden.
»Ich habe dir nicht helfen können.« Mein Vater stand auf und ich auch. »Nein, du mußt nicht gehen, mir tut nur der Rücken weh.« Er stand krumm, die Hände auf die Nieren gepreßt. »Ich kann nicht sagen, daß es mir leid tut, daß ich dir nicht helfen kann. Als der Philosoph, meine ich, als den du mich gefragt hast. Als Vater finde ich die Erfahrung, meinen Kindern nicht helfen zu können, schier unerträglich.«
Ich wartete, aber er redete nicht weiter. Ich fand, er mache es sich leicht; ich wußte, wann er sich mehr um uns hätte kümmern und wie er uns mehr hätte helfen können. Dann dachte ich, daß er das vielleicht selbst weiß und wirklich schwer daran trägt. Aber so oder so konnte ich ihm nichts sagen. Ich wurde verlegen und hatte das Gefühl, daß auch er verlegen war.
»Ja, dann …«
»Du kannst jederzeit kommen.« Mein Vater sah mich an.
Ich glaubte ihm nicht und nickte.
13
Im Juni flog das Gericht für zwei Wochen nach Israel. Die dortige Vernehmung war eine Sache weniger Tage. Aber Richter und Staatsanwälte verbanden das justizielle mit dem touristischen Ereignis, Jerusalem und Tel Aviv, Negev und Rotes Meer. Das war dienst-, urlaubs- und kostenrechtlich sicher in Ordnung. Gleichwohl fand ich es bizarr.
Ich hatte geplant, die zwei Wochen ganz ans Studium zu wenden. Aber es lief nicht so, wie ich es mir vorgestellt und vorgenommen hatte. Ich konnte mich nicht aufs Lernen konzentrieren, nicht auf die Professoren und nicht auf die Bücher. Wieder und wieder schweiften meine Gedanken ab und verloren sich in Bildern.
Ich sah Hanna bei der brennenden Kirche, mit hartem Gesicht, schwarzer Uniform und Reitpeitsche. Mit der Reitpeitsche zeichnet sie Kringel in den Schnee und schlägt gegen die Stiefelschäfte. Ich sah sie, wie sie sich vorlesen läßt. Sie hört aufmerksam zu, stellt keine Fragen und macht keine Bemerkungen. Als die Stunde vorbei ist, teilt sie der Vorleserin mit, daß sie morgen mit dem Transport nach Auschwitz geht. Die Vorleserin, ein schmächtiges Geschöpf mit schwarzen Haarstoppeln und kurzsichtigen Augen, beginnt zu weinen. Hanna schlägt mit der Hand gegen die Wand, und zwei Frauen treten ein, auch sie Häftlinge in gestreiftem Gewand, und zerren die Vorleserin raus. Ich sah Hanna Lagerstraßen entlanggehen und in Häftlingsbaracken treten und Bauarbeiten überwachen. Sie tut alles mit demselben harten Gesicht, mit kalten Augen und schmalem Mund, und die Häftlinge ducken sich, beugen sich über die Arbeit, drücken sich an die Wand, in die Wand, wollen in der Wand verschwinden. Manchmal sind viele Häftlinge angetreten oder laufen hierhin und dorthin oder formen Reihen oder marschieren, und Hanna steht dazwischen und schreit Kommandos, das schreiende Gesicht eine häßliche Fratze, und hilft mit der Reitpeitsche nach. Ich sah den Kirchturm ins Kirchendach schlagen und die Funken stieben und hörte die Verzweiflung der Frauen. Ich sah die ausgebrannte Kirche am nächsten Morgen.
Neben diesen Bildern sah ich die anderen. Hanna, die in der Küche die Strümpfe anzieht, die vor der Badewanne das Frottiertuch hält, die mit wehendem Rock auf dem Fahrrad fährt, die im Arbeitszimmer meines Vaters steht, die vor dem Spiegel tanzt, die im Schwimmbad zu mir herüberschaut, Hanna, die mir zuhört, die zu mir redet, die mich anlacht, die mich liebt. Schlimm war, wenn die Bilder durcheinandergerieten. Hanna, die mich mit den kalten Augen und dem schmalen Mund liebt, die mir wortlos beim Vorlesen zuhört und am Ende mit der Hand gegen die Wand schlägt, die zu mir redet und deren Gesicht zur Fratze wird. Das schlimmste waren die Träume,
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