Der Vorleser (Diogenes Taschenbuch, 22953) (German Edition)
wenn sie es waren, verstehen sie besonders gut. Hier im Gefängnis waren sie viel bei mir. Sie kamen jede Nacht, ob ich sie haben wollte oder nicht. Vor dem Prozeß habe ich sie, wenn sie kommen wollten, noch verscheuchen können.«
Sie wartete, ob ich etwas dazu sagen würde, aber mir fiel nichts ein. Daß ich nichts verscheuchen könne, hatte ich zunächst sagen wollen. Aber es stimmte nicht; man verscheucht jemanden auch, indem man ihn in eine Nische stellt.
»Bist du verheiratet?«
»Ich war’s. Gertrud und ich sind seit vielen Jahren geschieden, und unsere Tochter lebt im Internat; ich hoffe, daß sie für die letzten Schuljahre nicht dortbleiben, sondern zu mir ziehen will.« Jetzt wartete ich, ob sie etwas dazu sagen oder fragen würde. Aber sie schwieg. »Ich hole dich nächste Woche ab, ja?«
»Ja.«
»Ganz still, oder darf es ein bißchen lauter und lustiger sein?«
»Ganz still.«
»Gut, ich hole dich ganz still und ohne Musik und Champagner ab.« Ich stand auf, und auch sie stand auf. Wir sahen einander an. Es hatte zweimal geklingelt, und die anderen Frauen waren schon ins Haus gegangen. Wieder tasteten ihre Augen mein Gesicht ab. Ich nahm sie in die Arme, aber sie fühlte sich nicht richtig an.
»Mach’s gut, Jungchen.«
»Du auch.«
So nahmen wir Abschied, noch ehe wir uns im Haus trennen mußten.
9
Die kommende Woche war besonders geschäftig. Ich weiß nicht mehr, ob ich mit dem Vortrag, an dem ich arbeitete, auch unter Zeitdruck stand oder ob ich mich nur unter Arbeits- und Erfolgsdruck gesetzt hatte.
Die Vorstellung, mit der ich die Arbeit am Vortrag begonnen hatte, taugte nichts. Als ich sie zu überprüfen begann, stieß ich, wo ich Sinn und Regelhaftigkeit erwartet hatte, auf eine Zufälligkeit nach der anderen. Statt mich damit abzufinden, suchte ich weiter, gehetzt, verbissen, ängstlich, als gehe mit meiner Vorstellung von der Wirklichkeit diese selbst fehl, und ich war bereit, die Befunde zu verdrehen, aufzubauschen oder runterzuspielen. Ich geriet in einen Zustand eigentümlicher Unruhe, schlief zwar ein, wenn ich spät ins Bett ging, war aber nach wenigen Stunden hellwach, bis ich mich entschloß, aufzustehen und weiterzulesen oder zu schreiben.
Ich tat auch, was in Vorbereitung auf die Entlassung zu tun war. Ich richtete Hannas Wohnung ein, mit Ikea-Möbeln und ein paar alten Stücken, avisierte Hanna dem griechischen Schneider und brachte die Informationen über soziale und Bildungsangebote auf den neuesten Stand. Ich kaufte Vorräte, stellte Bücher ins Regal und hängte Bilder auf. Ich ließ einen Gärtner kommen, der den kleinen Garten pflegte, der die vor dem Wohnzimmer gelegene Terrasse umgab. Ich tat auch dies eigentümlich gehetzt und verbissen; es war mir alles zuviel.
Aber es war mir gerade genug, um nicht an den Besuch bei Hanna denken zu müssen. Nur manchmal, wenn ich Auto fuhr oder müde am Schreibtisch saß oder wach im Bett lag oder in Hannas Wohnung war, wurde der Gedanke daran übermächtig und trat Erinnerungen los. Ich sah sie auf der Bank, den Blick auf mich gerichtet, sah sie im Schwimmbad, das Gesicht mir zugewandt, und hatte wieder das Gefühl, sie verraten zu haben und an ihr schuldig geworden zu sein. Und wieder empörte ich mich gegen das Gefühl und klagte sie an und fand billig und einfach, wie sie sich aus ihrer Schuld gestohlen hatte. Nur die Toten Rechenschaft fordern zu lassen, Schuld und Sühne auf schlechten Schlaf und schlimme Träume reduzieren – wo blieben da die Lebenden? Aber was ich meinte, waren nicht die Lebenden, sondern war ich. Hatte ich nicht auch Rechenschaft von ihr zu fordern? Wo blieb ich?
Am Nachmittag, bevor ich sie abholen sollte, rief ich im Gefängnis an. Zuerst sprach ich mit der Leiterin.
»Ich bin ein wenig nervös. Wissen Sie, normalerweise wird niemand nach so langer Haft entlassen, bevor er nicht zunächst stunden- oder tageweise draußen war. Frau Schmitz hat das verweigert. Sie wird sich morgen nicht leichttun.«
Ich wurde mit Hanna verbunden.
»Überleg dir, was wir morgen machen. Ob du gleich zu dir nach Hause willst oder ob wir in den Wald oder an den Fluß wollen.«
»Ich überleg’s mir. Du bist immer noch ein großer Planer, nicht wahr?«
Das ärgerte mich. Es ärgerte mich, wie wenn mir Freundinnen gelegentlich sagten, ich sei nicht spontan genug, funktioniere zu sehr über den Kopf statt über den Bauch.
Sie merkte in meinem Schweigen meinen Ärger und lachte. »Ärgere dich nicht,
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