Der Vorleser (Diogenes Taschenbuch, 22953) (German Edition)
und es zu bekommen. Und während des Prozesses hatte sie es gehabt, dabeigehabt? Ich spürte wieder die Tränen in Brust und Hals.
»Sie hat mit Ihnen lesen gelernt. Sie hat sich in der Bibliothek die Bücher geliehen, die Sie auf Kassette gesprochen haben, und Wort um Wort, Satz um Satz verfolgt, was sie gehört hat. Das Kassettengerät hat das viele Ein- und Ausschalten, Vor- und Zurückspulen nicht lange ausgehalten, ging immer wieder kaputt, mußte immer wieder repariert werden, und weil’s dafür Genehmigungen braucht, habe ich schließlich mitgekriegt, was Frau Schmitz macht. Sie wollte es zunächst nicht sagen, aber als sie auch zu schreiben begann und mich um ein Buch mit Schreibschrift bat, hat sie es nicht länger zu verbergen versucht. Sie war auch einfach stolz, daß sie es geschafft hatte, und wollte ihre Freude mitteilen.«
Ich hatte, während sie sprach, weiter mit dem Blick auf die Bilder und Zettel gekniet und die Tränen niedergekämpft. Als ich mich umdrehte und aufs Bett setzte, sagte sie: »Sie hat so darauf gehofft, daß Sie ihr schreiben. Sie bekam nur von Ihnen Post, und wenn die Post verteilt wurde und sie fragte ›Kein Brief für mich?‹, meinte sie mit Brief nicht das Päckchen, in dem die Kassetten kamen. Warum haben Sie nie geschrieben?«
Ich schwieg wieder. Ich hätte nicht reden, ich hätte nur stammeln und weinen können.
Sie ging zum Regal, griff eine Teedose, setzte sich neben mich und nahm ein gefaltetes Blatt aus der Tasche ihres Kostüms. »Sie hat mir einen Brief hinterlassen, eine Art Testament. Ich lese Ihnen vor, was Sie betrifft.« Sie faltete das Blatt auf. »›In der lila Teedose ist noch Geld. Geben Sie es Michael Berg; er soll es mit den 7000 Mark, die auf der Sparkasse liegen, der Tochter geben, die mit ihrer Mutter den Brand der Kirche überlebt hat. Sie soll entscheiden, was damit geschieht. Und sagen Sie ihm, ich grüße ihn.‹«
Sie hatte mir also keine Nachricht hinterlassen. Wollte sie mich kränken? Wollte sie mich strafen? Oder war ihre Seele so müde, daß sie nur noch das Allernötigste hatte tun und schreiben können? »Wie war sie all die Jahre«, ich wartete, bis ich weiterreden konnte, »und wie war sie die letzten Tage?«
»Über viele Jahre hat sie hier gelebt wie in einem Kloster. Als hätte sie sich freiwillig hierher zurückgezogen, als hätte sie sich der hiesigen Ordnung freiwillig unterworfen, als sei die einigermaßen eintönige Arbeit eine Art Meditation. Bei den anderen Frauen, zu denen sie freundlich, aber distanziert war, genoß sie besonderes Ansehen. Mehr noch, sie hatte Autorität, wurde um Rat gefragt, wenn es Probleme gab, und wenn sie bei einem Streit dazwischenging, wurde akzeptiert, was sie entschied. Bis sie sich vor einigen Jahren aufgab. Sie hatte immer auf sich gehalten, war bei ihrer kräftigen Gestalt doch schlank und von peinlicher, gepflegter Sauberkeit. Jetzt fing sie an, viel zu essen, sich selten zu waschen, sie wurde dick und roch. Sie wirkte dabei nicht unglücklich oder unzufrieden. Eigentlich war es, als hätte der Rückzug ins Kloster nicht mehr genügt, als gehe es selbst im Kloster noch zu gesellig und geschwätzig zu und als müsse sie sich daher weiter zurückziehen, in eine einsame Klause, in der einen niemand mehr sieht und Aussehen, Kleidung und Geruch keine Bedeutung mehr haben. Nein, daß sie sich aufgegeben hat, war falsch gesagt. Sie hat ihren Ort neu definiert, in einer Weise, die für sie gestimmt, aber die anderen Frauen nicht mehr beeindruckt hat.«
»Und die letzten Tage?«
»Sie war wie immer.«
»Kann ich sie sehen?«
Sie nickte, blieb aber sitzen. »Kann einem die Welt in Jahren der Einsamkeit so unerträglich werden? Bringt man sich lieber um, als aus dem Kloster, aus der Einsiedelei wieder in die Welt zurückzukehren?« Sie wandte sich mir zu. »Frau Schmitz hat nicht geschrieben, warum sie sich umgebracht hat. Und Sie sagen nicht, was zwischen Ihnen beiden gewesen ist und vielleicht dazu geführt hat, daß Frau Schmitz sich in der Nacht vor dem Tag umbringt, an dem Sie sie abholen wollten.« Sie faltete das Blatt zusammen, steckte es ein, stand auf und strich den Rock glatt. »Mich trifft ihr Tod, wissen Sie, und im Moment bin ich zornig, auf Frau Schmitz und auf Sie. Aber gehen wir.«
Sie ging wieder voraus, diesmal wortlos. Hanna lag auf der Krankenstation in einer kleinen Kammer. Wir konnten gerade zwischen Wand und Trage treten. Die Leiterin schlug das Tuch zurück.
Hanna war
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