Schmidts Einsicht
I
Silvester, acht Uhr morgens. Noch sechzehn Stunden, dann war wieder ein beschissenes Jahr vorbei, beschissen wie das ganze letzte Jahrzehnt. Was würde das neue Jahr bringen? Für die Nation, die – unglaublich und wundersam – ihre Geschichte überwunden hatte und Barack Obama ins Weiße Haus entsandte, erhoffte sich Schmidt Erlösung und Reinigung. Dieses Hochgefühl trieb ihm Tränen in die Augen, darauf war er nicht gefaßt, und er konnte sie nur mit dem Ärmel seines Parkas abwischen. Er fragte sich, ob irgendwer, abgesehen von Obamas eigener Familie, eine derart ungetrübte Zuneigung für den Mann empfand wie er, Schmidt? Wohl kaum, wagte er zu vermuten: Seine Sympathie für diesen außergewöhnlichen jungen Menschen ging weit über die Treue zu einer Partei hinaus. Sie hatte wenig oder nichts damit zu tun, daß er die Demokraten schon seit Adlai Stevensons zweiter Kandidatur für die Präsidentschaft unterstützte. Als Stevenson zum erstenmal zur Wahl gestanden hatte, war Schmidt noch zu jung gewesen, aber 1956 stimmte er gegen den sicheren Sieger Ike, aus Prinzip und auch, weil es ihm Spaß machte, seinen Vater zu ärgern, der sich die reaktionäre Einstellung der griechischen Reeder, seiner wichtigsten Mandanten, zu eigen gemacht hatte, genauso wie deren Vorliebe für maßgefertigte Schuhe und Anzüge. Nein, seine Liebe für Obama – was sprach gegen dieses Wort – war auf einer ganz anderen Ebene angesiedelt, war Teil der Liebe zu seinem Land. Und er hatte noch einen zweiten, eher privaten Grund zur Freude: die Hoffnung, daß der Fluch, mit dem er sich dreizehn Jahre zuvor selbst gestraft hatte –ein Gemisch aus all seinen schlechten Eigenschaften, Eifersucht und Neid, blindem Stolz und jähem unversöhnlichem Zorn –, endlich gebannt war. Vielleicht hatte auch er bessere Zeiten vor sich.
Er sammelte die New York Times in der Einfahrt auf, ging zurück zum Haus und las das Thermometer an der Veranda ab. Frostige vier Grad unter Null. Mit etwas Glück würde es am späten Vormittag deutlich wärmer werden, so daß Alice sich nicht zu plötzlich auf die Kapricen des Ostküstenwetters einstellen mußte. Noch vor vier Tagen war das Thermometer auf erstaunliche vierzehn Grad gestiegen – eine Rekordtemperatur, wie Schmidt in der Times gelesen hatte. Zu Weihnachten war es kühler gewesen, aber immer noch lächerlich mild: zwölf Grad. Die Wettervorhersage kündigte einen Umschwung an: Für den Neujahrstag 2009 wurden Tiefstwerte bis zu zwölf und Höchstwerte von vier Grad unter Null erwartet. Schmidt legte die Zeitung auf den Küchentisch und verließ das Haus wieder, um wie jeden Morgen sein Grundstück zu inspizieren. Seine Haushälterin Sonja würde in ein paar Minuten kommen und ihm das Frühstück auf den Tisch stellen. Im Haus hatte sie zur Zeit so wenig zu tun, daß er sich gedrängt sah, Beschäftigungen für sie zu erfinden, denn nichts demoralisiert das Personal so schnell wie Müßiggang. Der hohe Schnee – gut fünfzehn Zentimeter –, der Bridgehampton in der Woche vor Weihnachten innerhalb weniger Stunden zugedeckt hatte, war im warmen Wetter geschmolzen und hatte das Gras wachsen lassen. Es grünte wie Anfang Juni. Auch alles andere sah gut aus, besonders die Azaleen und Rhododendren am Außenrand des Rasens hinter dem Haus. Die knospenfressenden Rehe hatten sie verschont, obwohl Gus Parrish auf Schmidts Anweisung hin die Büsche nicht, wie sonst, zum Schutz mit schwarzen Nylonnetzen umwickelt hatte. Der Gärtnerhatte verblüfft nach dem Grund gefragt, und Schmidt hörte sich die peinliche Wahrheit aussprechen: Für ihn sähen die Büsche in den Netzhüllen wie prähistorische Monster auf dem Sprung zum Angriff gegen das Haus aus. Der Anblick sei ihm nicht geheuer. Daraufhin hatte sich Gus gefügt, ohne auf irgendeine Weise anzudeuten, daß er seinen Kunden für übergeschnappt hielt, und das fand wiederum Schmidt überraschend – und erfreulich. Ein Grund mehr, sich glücklich zu schätzen, daß er Gus’ Leute als Nachfolger für Jim Bogards Neffen angeheuert hatte, der sich endlich auch, wie sein Onkel lange zuvor, zur Ruhe gesetzt hatte. Genaugenommen waren die Bogards schon für die Pflege des Grundstücks zuständig gewesen, bevor es nach dem Tod seiner Frau Mary an Schmidt übergegangen war, damals, als es noch Marys Tante Martha gehörte und er, seine Frau und ihre Tochter Charlotte als Marthas nächste Angehörige an Wochenenden und in den Sommerferien bei ihr zu Gast
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