Der Vormacher
ich bin nicht mehr so schwach wie früher, ich weiß mich zu beherrschen. Erstens: Noch ist nichts bewiesen. Linda ist eine alte Tratschtante, die gerne mal übertreibt. Und Emil probiert es bei jeder, so ein Kuss aufs Ohr ist zwar hart an der Grenze, aber irgendwie kriegt Emil es immer hin, dass die Frauen es ihm nicht übel nehmen. Das muss also gar nichts bedeuten. Zweitens: Wenn es so wäre, wenn also Theodora und Emil etwas hätten, ist es dann nicht auffällig, dass sie es so angestrengt vor mir verbirgt? Das deutet doch darauf hin, dass sie es sich mit mir nicht verderben will. Sie nimmt Emil jetzt, weil sie ihn haben kann, sie geht schließlich davon aus, dass ich noch nicht wieder zu haben bin. Mein Fehler, das stimmt, aber sicher kein nicht mehr gutzumachender Fehler. Sobald ich wieder Single bin, lässt sie Emil fallen wie eine heiße Kartoffel. Wenn sie überhaupt etwas mit ihm hat.
Heute Abend bleibt Theodora zu Hause. Wir essen kalt, ich habe Brot vom Biobäcker geholt, auf den sie so schwört. Es gelingt mir, mein Misstrauen zu verbergen. Ganz egal, was an der Sache mit Emil dran ist, es kann nicht schaden, ein bisschen deutlicher zu werden, damit sie weiß: Wenn sie will, will ich auch.
»Das finde ich schon toll von dir«, sage ich. »Dass ich hier wohnen kann, meine ich.«
»Ach, komm schon«, sagt sie. »Du bist halt Zwischenmieter. Ich habe eh jemanden gesucht, da bin ich doch froh, wenn es jemand ist, den ich kenne.«
»Das gefällt mir an dir«, fahre ich fort. »Du kümmerst dich um die Leute um dich herum. Wirklich. Nicht so wie andere, die blind an allem vorbeigehen. Du setzt dich ein. Du tust was.«
Ich rede ein bisschen in der Luft herum. Ich will ihr Komplimente machen, aber keine körperlichen, das wäre zu direkt.
»Das klingt ja, als wäre ich Mutter Teresa«, sagt sie spöttisch, aber ich glaube doch, dass meine Komplimente angekommen sind.
»Bist du ja auch«, sage ich scherzend, »ich meine, wie Mutter Teresa, nur schöner.«
Jetzt ist es heraus: schöner. Ob das nicht ein Wort zu viel war?
»Ich finde, dass du dich einsetzt«, sagt sie.
»Was meinst du damit?«
»Wie du dich um Jana kümmerst, das ist super. Du hast um ihre Hand angehalten, als sie schon krank war. Jeden Tag gehst du ins Krankenhaus und liest ihr vor! Das muss ihr viel bedeuten, dass sie so jemanden hat wie dich.«
Darüber wollte ich heute Abend eigentlich nicht reden.
»Na ja«, sage ich, als wollte ich sagen: Das hat doch nichts zu bedeuten, das ist doch ganz normal.
»Im Ernst«, sagt sie mit vollem Mund. Das tut sie oft, mit vollem Mund reden, es ist charmant, so zwanglos.
»Du bist auch ein super Mitbewohner«, fährt sie fort.
»Ja?«
»Aber sicher. Johann ist ein prima Kerl, wir verstehen uns gut, aber wenn er meditiert, dann muss ich immer ganz still sein, sonst wird er fuchsteufelswild.«
»Wie kann denn das sein?«, frage ich. »Er kann doch nicht von dir verlangen, dass du auf Zehenspitzen gehst, nur damit er meditieren kann?«
»Ach, na ja«, sagt Theodora. »Johann hat hier zuerst gewohnt, und ich wollte gerne in die Wohnung, also habe ich seine Bedingungen angenommen, er hatte nur eine – dass jeden Abend von acht bis halb neun absolute Stille herrscht für seine Meditation. Davon abgesehen ist er ein Schatz, total freundlich und hilfsbereit. Er hat es nicht leicht gehabt. Seine Frau ist auch gestorben –«
Erschrocken schaut sie mich an.
»Oje«, stammelt sie, »wie blöd von mir! Das war nicht so gemeint, Henri, wirklich nicht!«
»Schon gut«, sage ich, aber ich ziehe den Kopf ein bisschen ein, damit es aussieht, als hätte sie einen wunden Punkt getroffen. »Ist schon in Ordnung«, sage ich mit schwacher Stimme.
»Henri, bitte, das war nicht so gemeint«, sagt sie noch mal. Dann geht sie um den kleinen Tisch herum und schließt mich in die Arme. Der Duft von Olazra Blue umfängt mich, warm und betörend, denn sie hat vor dem Abendessen geduscht. Mir schwindelt. Sie hält mich kurz fest, tröstend, dann lässt sie mich wieder los.
»Ich muss noch telefonieren«, sagt sie und geht in ihr Zimmer. Dabei wirft sie mir noch einen Blick zu, ein Blick, in dem Verlangen und Mitleid verschmelzen. Oder bilde ich mir das ein? Wenn sie nach mir verlangt, warum nimmt sie mich dann nicht? Gegenfrage: Wenn ich nach ihr verlange, warum nehme ich sie dann nicht? Menschen sind komisch. Ich versuche, mir das Gefühl ihrer Umarmung zu bewahren. Ihren Geruch, ihre Haare, die mir übers Gesicht
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