Der Vormacher
behauptet hatte. Ich lese Jana aus ihren Büchern vor. Nicht die französischen, das kann ich nicht, aber die Bücher von Paul Auster auf Englisch, ich lese fast akzentfrei, und sogar Die Leiden des jungen Werther, das ist ihr Lieblingsbuch. Das Buch bedeutet mir nichts, aber es macht Spaß, vorzulesen, ich weiß nicht, warum, anscheinend habe ich ein bisher unentdecktes Talent. Neulich habe ich die Krankenschwester dabei ertappt, wie sie absichtlich länger im Raum blieb, um mir zuzuhören.
Seit Jana im Krankenhaus liegt, führen wir eine harmonische Beziehung. Sie erzählt vom Arztbesuch oder von früher, von ihrer Kindheit, aus irgendeinem Grund scheint sie das in der letzten Zeit sehr zu beschäftigen. Manchmal heult sie sich an meiner Schulter aus, das tut uns beiden gut. Ich erzähle von der Arbeit, vom Chef, von Emil, von Linda, auch von Theodora, aber natürlich ganz distanziert, ich erwähne auch nicht, dass ich bei Theodora wohne. Sie weiß, dass ich nicht mehr in unserem Haus wohne, aber ich habe gesagt, dass ich ein kleines Zimmer gemietet habe, mehr nicht, und sie hat nicht weiter gefragt. Eigentlich erzähle ich ihr dieselben Dinge, die ich auch Linda erzähle, nur dass ich bei Linda immer etwas vorsichtiger bin, weil Linda die Leute, über die wir reden, kennt und täglich sieht. Jana freut sich über alle Neuigkeiten, sogar die von der Arbeit. So kommt es, dass ich ihr heute lauter Dinge erzähle, die ich früher für mich behalten hätte. Ich habe ihr sogar von meiner Begegnung mit Fritz berichtet, natürlich ohne genau zu sagen, worüber wir uns unterhalten haben, und sein Verhalten gegenüber seiner Frau habe ich auch ein wenig beschönigt.
Ich war noch zweimal im China-Imbiss, aber es war immer so viel los, dass ich nicht bei der Küche angeklopft habe. Seine Frau tut so, als kenne sie mich nicht. Komisches Weib. Kein Wunder, dass er sie so an die Kandare nimmt.
Theodora ist oft weg, eigentlich jeden Abend. Das ist schade, aber ich kann mir ihre Motive denken und übe mich in Geduld. Unser gemeinsames Frühstück hingegen ist zur festen Tradition geworden, obwohl sie manchmal auch über Nacht bei ihrer Freundin bleibt. Wie sie sagt, wird ihr die ständige Trösterei langsam lästig, aber es ist eine alte Freundin, die sie nicht im Stich lassen möchte. Ja, ja: ein gutes Herz in einem noch viel besseren Körper. Ich merke, wie sie langsam beginnt, mir zu vertrauen, wie ein Reh, das handzahm wird. Sie redet immer offener mit mir, wir lachen viel, wir verstehen uns. Die Weichen sind gestellt, ich bin gespannt, ob es ihr gelingt, sich bis zu Janas Tod zurückzuhalten. Es würde mich nicht überraschen, sie eines Abends in meinem Hochbett zu finden. Momentan liege ich da noch alleine. Jeden Abend denke ich an den Tag und konzentriere mich darauf, das Gute zu sehen, ich will nur noch gute Erinnerungen haben. Wenn Theodora da ist, ist es gut, weil es ein Schritt in die richtige Richtung ist. Wenn sie weg ist, ist es auch gut, weil ich dann meine Ruhe habe. Wie Fritz gesagt hat, alles ist so, wie ich es mir zurechtlege. Alles, was schiefläuft, Stress im Büro, ein Abend ohne Theodora, ein skeptischer Blick von Jana, ist nur eine Probe für meine Fähigkeit, das Leben richtig zu sehen. Ich habe einen hervorragenden Vergleich gefunden. Es ist wie in der Achterbahn. Jeder macht dieselbe Reise, man hat keinen Einfluss darauf, wo es hingeht, nach rechts, nach links, nach oben, nach unten, schnell oder langsam. Die einen schreien und fürchten sich, und wenn die Bahn wieder steht, ergreifen sie panisch die Flucht und schwören, nie wieder einen Fuß in so ein Gefährt zu setzen. Die anderen lachen, wenn es in die Kurve geht, sie wollen die Kurve, es sieht beinah so aus, als lenkten sie ihr Wägelchen, wenn es in rasender Fahrt einen Looping macht, und am Ende torkeln sie langsam davon und denken zufrieden an das Erlebnis zurück. So einer will ich sein – einer, der lacht, wenn er aus der Achterbahn steigt, sogar wenn ihm dabei kotzübel geworden ist.
Heute wird mir tatsächlich beinah kotzübel, und zwar wegen einer Bemerkung, die Linda ganz nebenbei macht. Wir essen zusammen zu Mittag, beim Italiener, und Linda klagt mal wieder über den Chef.
»Jetzt war er wochenlang ein richtiger Schatz, und auf einmal ist er total arschig«, sagt sie.
»Komisch«, stimme ich zu.
»Irgendwas ist gestern passiert, als ich nicht da war«, sagt Linda. »Gustaf hat mir den Vormittag freigegeben, obwohl ich gar nicht
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