Der Wächter
auf. Die satten Farben des Glases – Karmin, Smaragd, Dunkelgelb, Saphir – filterten das natürliche Licht selbst an einem hellen Tag so vollständig, dass die Bücher keinerlei Schaden nehmen konnten.
Ethans Onkel Joe, der als Ersatzpapa eingesprungen war, wenn Ethans echter Vater zu besoffen gewesen war, um seiner Aufgabe gerecht zu werden, hatte als Fahrer für eine Großbäckerei gearbeitet. Sechs Tage pro Woche hatte er acht Stunden lang Brot und Gebäck an Supermärkte und Restaurants ausgeliefert. Meist hatte er an drei Wochentagen auch noch einen zweiten Job als Nachtportier gehabt.
Zählte man den Verdienst seiner besten fünf Jahre zusammen, dann hatte Onkel Joe nicht so viel verdient, wie diese Glaskuppel gekostet hatte.
Als Ethan so weit gewesen war, sein erstes Monatsgehalt als Polizist in der Hand zu halten, hatte er sich reich gefühlt. Im Vergleich zu seinem Onkel scheffelte er das große Geld.
Sein gesamtes Einkommen aus sechzehn Jahren beim LAPD hätte nicht ausgereicht, um diesen einen Raum zu finanzieren.
»Ich hätte eben Filmstar werden sollen«, murmelte er vor sich hin, als er die Bibliothek betrat, um den Roman dorthin zurückzustellen, wohin er gehörte.
Sämtliche Bände der Sammlung waren in der alphabetischen Reihenfolge der Verfassernamen angeordnet. Ein Drittel war in Leder gebunden, bei den übrigen handelte es sich um reguläre Ausgaben. Nicht wenige waren selten und wertvoll.
Ihr Besitzer hatte keines der Bücher je gelesen.
Über zwei Drittel der Sammlung waren bereits bei der Übernahme im Haus gewesen. Darüber hinaus besorgte Mrs. McBee auf Anweisung ihres Arbeitgebers einmal im Monat die meistdiskutierten und von der Kritik am höchsten gelobten Romane und Sachbücher, die sofort katalogisiert und ins entsprechende Regal gestellt wurden.
Die neuen Bücher wurden ausschließlich zu Ausstellungszwecken erworben. Sie sollten Logiergäste, Partyteilnehmer und andere Besucher mit dem breiten Spektrum von Channing Manheims intellektuellen Interessen beeindrucken.
Fragte man Manheim nach seiner Meinung über ein Buch, so verstand er es, erst das Urteil des Besuchers zu erforschen und diesem dann auf so charmante Weise beizupflichten, dass er sich nicht nur als geistesverwandt, sondern auch als hoch gebildet darstellte.
Als Ethan Lord Jim zwischen zwei andere Romane von Joseph Conrad schob, hörte er hinter sich eine dünne, quäkende Stimme: »Ist da Magie drin?«
Er drehte sich um und erblickte den zehn Jahre alten Aelfric Manheim in einem der größeren Sessel. Es sah fast so aus, als würde das Möbel ihn bei lebendigem Leibe verschlingen.
Laut Laura Moonves war Aelfric (Elf-rick ausgesprochen) ein altenglisches Wort mit der Bedeutung »von Elfen geleitet«. Anfangs dazu verwendet, eine kluge, gewitzte Handlungsweise zu bezeichnen, war es im Lauf der Zeit zu einem Namen für Menschen geworden, die klug und gewitzt handelten.
Aelfric.
Die Mutter des Jungen, Fredericka »Freddie« Nielander, ein Supermodel, das gerade mal ein Jahr gebraucht hatte, um Manheim zu heiraten und von ihm geschieden zu werden, hatte in ihrem Leben mindestens drei Bücher gelesen: die Trilogie Der Herr der Ringe . Die hatte sie allerdings gleich mehrfach verschlungen.
Eigentlich hatte sie vorgehabt, das Baby Frodo zu nennen. Zum Glück – oder auch nicht – hatte ihre damalige beste Freundin, eine Schauspielerin, einen Monat vor der Geburt den Namen Aelfric entdeckt. Er stand im Drehbuch eines kitschigen Fantasyfilms, in dem sie eine dreibrüstige Amazone mit alchemistischen Neigungen spielte.
Hätte Freddies Freundin eine Nebenrolle in Das Schweigen der Lämmer an Land gezogen, so hätte Aelfric nun wahrscheinlich den Namen Hannibal Manheim getragen.
Der Junge wollte lieber »Fric« gerufen werden, und niemand außer seiner Mutter bestand darauf, seinen vollen Namen zu verwenden. Zum Glück – oder auch nicht – war sie nicht oft da, um ihn damit zu quälen.
Zuverlässigem Klatsch und Tratsch zufolge hatte Freddie den kleinen Fric seit über siebzehn Monaten nicht mehr gesehen. Selbst wenn ein Supermodel in die Jahre kam, stellte seine Karriere gewisse Anforderungen.
»Ist wo Magie drin?«, fragte Ethan zurück.
»In dem Buch, das Sie gerade weggestellt haben.«
»In gewissem Sinne ja, aber wahrscheinlich ist es nicht die Art Magie, an die du denkst.«
»Das da ist echt scheißvoll mit Magie«, sagte Fric und hob ein Taschenbuch hoch, auf dessen Einband Drachen und Zauberer zu
Weitere Kostenlose Bücher