Der Wächter
Bibliotheksregale zu füllen.
»Tja«, sagte Ethan, »vielleicht gibt’s dieses Jahr an Weihnachten ja doch ein paar Überraschungen.«
Der Junge rutschte im Sessel nach vorn. Offenbar weckte die geheimnisvolle Atmosphäre, die er gerade noch lässig abgetan hatte, doch sein Interesse. »Wie – haben Sie etwa irgendwas gehört?«
»Wenn ich etwas gehört haben sollte, was der Fall sein könnte oder auch nicht, dann könnte ich es dir nicht sagen; angenommen, ich hätte tatsächlich was gehört, wäre die Überraschung sonst nämlich keine Überraschung mehr. Damit will ich natürlich weder sagen, dass es eine Überraschung gibt, noch dass es keine geben wird.«
Fric starrte ihn einige Sekunden schweigend an. »Jetzt klingen Sie nicht mehr so überehrlich wie ein Cop, sondern eher wie der Boss von einem Filmstudio.«
»Mit Bossen von Filmstudios kennst du dich aus, was?«
»Manchmal kommt einer von den Typen hier vorbei«, sagte der Junge in weltklugem Ton. »Ich kenne die Sprüche, die sie draufhaben.«
Direkt gegenüber dem Apartmenthaus in West Hollywood, in dem Rolf Reynerd wohnte, lenkte Ethan den Ford Expedition an den Straßenrand und schaltete dort die Scheibenwischer aus. Den Motor ließ er laufen, um es warm zu haben. Zunächst blieb er im Wagen sitzen, um das Haus eine Weile zu beobachten und sich zu überlegen, wie er Reynerd am besten auf die Pelle rückte.
Der Expedition gehörte zu einem Fuhrpark, der den acht im Haus wohnenden Mitgliedern von Manheims fünfundzwanzigköpfigem Personal zur beruflichen wie privaten Verfügung stand. Unter anderem hätte in der Tiefgarage auch ein eleganter Mercedes-Geländewagen des Typs ML 500 gestanden, aber der hätte bei einer längeren Überwachung zu viel Aufsehen erregt.
Das dreistöckige Apartmenthaus war in gutem, wenngleich nicht ausgezeichnetem Zustand. Der cremefarbene Stuck wies zwar weder Löcher noch Risse auf, aber die Fassade hätte einen neuen Anstrich vertragen. Eine der Ziffern der Hausnummer über dem Eingang hing schief.
Kameliensträucher mit schweren roten Blüten, verschiedene Farne und Phönixpalmen mit gewaltigen Wedeln schufen ein anspruchsvolles, üppiges Ambiente, nur hätte alles schon vor Monaten einmal gestutzt werden müssen. Am Zustand des Rasens war zu erkennen, dass er nicht wöchentlich, sondern nur zweimal im Monat gemäht wurde.
Obwohl der Vermieter sichtlich darauf bedacht war, die laufenden Kosten zu reduzieren, sah das Gebäude durchaus ansprechend aus.
Wer hier wohnte, tat das sicher nicht auf Kosten des Sozialamts. Reynerd hatte also allem Anschein nach einen Job, allerdings musste er wahrscheinlich nicht allzu früh aufstehen, um zur Arbeit zu gehen, da er immerhin um halb vier morgens Todesdrohungen ausliefern konnte. Gut möglich, dass er jetzt zu Hause war.
Hätte Ethan gleich die Arbeitsstelle des Verdächtigen ausfindig gemacht und damit begonnen, bei Kollegen und Nachbarn Erkundigungen einzuziehen, wäre Reynerd bestimmt von irgendjemand gewarnt worden und anschließend zu misstrauisch gewesen, um direkt unter die Lupe genommen zu werden.
Deshalb zog Ethan es vor, sich den Verdächtigen erst einmal selbst vorzuknöpfen, um dann von da aus weitere Kreise zu ziehen.
Er schloss die Augen, ließ den Hinterkopf an die Kopfstütze sinken und brütete darüber nach, wie er vorgehen sollte.
Ein Auto röhrte auf einmal so rasch heran, dass Ethan aufschreckte. Er hätte sich nicht gewundert, gleich das Jaulen eines Streifenwagens zu hören, der die Verfolgung aufnahm. Es war aber nur ein kirschroter Ferrari Testarossa, der da vorbeidonnerte, und das viel zu schnell für ein Wohngebiet. Vielleicht hatte der Fahrer ja tatsächlich Lust, ein über die Straße flitzendes Kind oder eine alte Dame mit orthopädischen Schuhen und Krückstock über den Haufen zu fahren.
Von den Rädern des Ferraris aufgewirbelt, ergoss sich ein Wasserschwall über Ethans Wagen. Über die Scheibe der Fahrertür liefen schmutzige Bächlein.
Das Apartmenthaus auf der anderen Straßenseite schimmerte wie eine Fata Morgana. Irgendein Aspekt des flüchtigen Zerrbilds löste die vage Erinnerung an einen längst vergessenen Albtraum aus, und beim Anblick des verschwommenen Gebäudes sträubten sich Ethan unwillkürlich die Härchen im Nacken.
Dann rannen die Reste des Schwalls vom Fenster. Im Nu spülte der Regen die trüben Schlieren vom Glas, und das Apartmenthaus war wieder nur noch das, was Ethan beim ersten Blick gesehen hatte: ein
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