Der Wächter
durchaus annehmbares Domizil.
Nachdem Ethan zu dem Schluss gekommen war, dass ein Schirm bei dieser Sorte Schauer eher hinderlich als nützlich war, stieg er aus dem Wagen und rannte über die Straße.
Wenn im Süden Kaliforniens der Spätherbst ins Land zog, so litt Mutter Natur bis zum Winteranfang an unberechenbaren Stimmungswechseln. Jedes Jahr verlief das anders, und in der Woche vor Weihnachten konnte das Wetter am einen Tag überaus mild und am nächsten eiskalt sein. Heute war die Luft kühl, der Regen kälter als die Luft und der Himmel so leblos grau wie viel weiter nördlich, wo echter Winter herrschte.
Die Eingangstür des Hauses war weder mit Sicherheitsschloss noch elektrischem Türöffner ausgestattet. Offenbar war die Gegend noch so sicher, dass ein Hausflur nicht unbedingt zum Bollwerk ausgebaut werden musste.
Tropfnass betrat Ethan den ziemlich engen Flur, dessen Boden mit mexikanischen Fliesen belegt war. Ein Aufzug und eine Treppe führten in die oberen Stockwerke.
Der hartnäckige Fleischgeruch von vor Stunden gebratenem kanadischem Schinken hing in der Luft, gemischt mit einem Anflug von schalem Marihuanarauch. Gras hatte einen ganz eigenen Duft. Hier hatte irgendjemand morgens gestanden und seinen Joint fertig geraucht, bevor er in den trüben Tag hinausgetreten war.
Anhand der Briefkästen zählte Ethan vier Wohnungen im Erdgeschoss und jeweils sechs im ersten und im zweiten Stock. Reynerd wohnte in der Mitte des Gebäudes, in Apartment 2B.
Nur die Nachnamen der Mieter standen auf den Kästen. Ethan brauchte mehr Informationen, als die Klebeetiketten lieferten.
In einer Wandnische befand sich ein offenes, gemeinsam genutztes Fach, in dem der Briefträger Zeitschriften und andere Publikationen deponieren konnte, falls ein Kasten wegen hohen Postaufkommens zu voll war. Im Fach lagen zwei Zeitschriften. Beide waren an George Keesner in Apartment 2E adressiert.
Ethan klopfte an die Aluminiumtüren mehrerer Briefkästen von Wohnungen, die ihn nicht interessierten. Der jeweils hohle Klang ließ darauf schließen, dass sie leer waren. Wahrscheinlich war heute noch keine Post gekommen.
Als er an Keesners Kasten klopfte, hörte der sich jedoch an, als wäre er bis oben hin gefüllt. Offenbar war sein Besitzer seit mindestens zwei Tagen verreist.
Ethan erklomm die Treppe zum ersten Stock. Ein langer Flur, drei Türen auf jeder Seite. Vor Wohnung 2E angelangt, läutete er und wartete.
Reynerds Wohnung – 2B – befand sich direkt gegenüber von 2E.
Weil bei Keesner niemand auf die Türglocke reagierte, läutete Ethan noch einmal, zweimal. Nach einer Pause klopfte er laut.
In die Türen war ein Spion eingebaut, damit die Bewohner jeden Besucher begutachten konnten, um zu entscheiden, ob sie ihn hereinlassen wollten oder nicht. Vielleicht beobachtete Rolf Reynerd bereits Ethans Hinterkopf.
Da auch das Klopfen nichts bewirkte, wandte Ethan sich von Keesners Tür ab und setzte eine enttäuschte Miene auf. Er wischte sich mit der Hand das regennasse Gesicht ab und fuhr sich durch sein feuchtes Haar. Dann schüttelte er den Kopf und schaute nach links und rechts.
Als Ethan an Apartment 2B läutete, öffnete der Apfelmann fast augenblicklich die Tür, und zwar ohne die Sicherheitskette vorzulegen.
Obwohl er dem Bild, das die Überwachungskamera aufgezeichnet hatte, unverkennbar ähnelte, sah er deutlich besser aus als nachts im Regen. Er erinnerte Ethan an den Schauspieler Ben Affleck.
Abgesehen davon hätte er so gut in Hitchcocks »Bates Motel« gepasst, dass jeder Fan von Anthony Perkins begeistert gewesen wäre. Die angespannten Mundwinkel, die an der rechten Schläfe pulsierende Vene und besonders der harte Glanz in den Augen ließen vermuten, dass er Methamphetamin genossen hatte. Ganz zugedröhnt war er zwar nicht, aber doch ziemlich high.
»Sir«, sagte Ethan, noch während die Tür aufging, »bitte verzeihen Sie die Störung, aber ich muss unbedingt mit George Keesner von da drüben in 2E sprechen. Kennen Sie George?«
Reynerd schüttelte den Kopf. Er hatte einen Stiernacken. Offenbar verbrachte er viel Zeit an irgendwelchen Kraftmaschinen.
»Bloß vom Sehen«, sagte er. »Wir grüßen uns im Flur und reden kurz übers Wetter. Sonst nicht.«
In der Hoffnung, dass das alles stimmte, wagte Ethan sich ein Stück weiter vor. »Ich bin sein Bruder, Ricky Keesner.«
Falls Keesner nicht jünger als zwanzig oder älter als fünfzig war, würde der Schwindel wirken.
»Unser Onkel Harry
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