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Der Wald - ein Nachruf

Der Wald - ein Nachruf

Titel: Der Wald - ein Nachruf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Wohlleben
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auch tagsüber häufiger auf den Wiesen beobachten lassen und die Fluchtdistanz verringern. Sobald Anfang Mai der erste Schuss fällt, verschwinden sie wieder in der Deckung.
    In Mitteleuropa wird flächendeckend gejagt, sogar in Schutzgebieten. Somit sind alle jagdbaren Tierarten extrem scheu. Vögel sind dafür ein gutes Beispiel. Auf Krähen, Kormorane, Reiher, manche Greifvögel (was illegal ist), Gänse und Enten wird geballert, was das Zeug hält. Diese Arten halten sich daher von uns fern. Meisen, Amseln oder Rotkehlchen dagegen lassen uns auf wenige Meter heran. Sie stehen nicht auf der Abschussliste, kennen keinen Argwohn und behandeln uns so, als seien wir Kühe oder Pferde. Einzig im städtischen Bereich, in dem sich Jäger nicht betätigen dürfen, können scheue Arten ein wenig zutraulicher werden.
    Und dieses Phänomen lässt sich auf alle Arten übertragen. Bei den durchschnittlich 50 Rehen pro Quadratkilometer Wald, zu denen noch je nach Region 10 bis 20 andere große Säugetiere wie Wildschweine oder Hirsche hinzukommen, müssten Sie eigentlich bei jeder Wanderung an wahren Wildtierherden vorbeikommen. Was die Touristen in Afrika begeistert, kann es prinzipiell auch bei uns geben. Gibt es aber nicht. Außer einem einzelnen Reh, welches verschreckt vor Ihnen flüchtet, weil es gedöst hat und unaufmerksam war, werden Tierbeobachtungen eher die Ausnahme bleiben. Grund ist eine völlige Umstellung des Verhaltens der Waldbewohner. Seit über 100 Jahren gibt es so gut wie keine Wölfe, Luchse oder Bären mehr, die Pflanzenfresser bedrohen. Stattdessen sind es Zweibeiner, die Gewehrläufe anlegen und Beute machen. Über viele Tiergenerationen hinweg haben die Jäger einen enormen Druck im Sinn der Evolution ausgeübt. Wer den Waidmännern nicht auswich, landete in der Bratpfanne und konnte sich nicht mehr vermehren. Übrig blieben vorsichtige Rehe und Hirsche, die sich den Gewohnheiten ihrer Feinde mehr und mehr anpassten. Dazu gehört auch die Umstellung der Le bensgewohnheiten. Pflanzenfresser sind fast rund um die Uhr aktiv, nehmen immer wieder Gräser und Kräuter auf, um sie dann in Ruhe wiederzukäuen und zu verdauen. Zwölf Stunden Pause sind da nicht drin, es muss regelmäßig Nach schub geben. Dennoch scheinen Wildtiere nachtaktiv zu sein, denn tagsüber fehlt von ihnen beinahe jede Spur. In der Dunkelheit dagegen herrscht Hochbetrieb. Viele Fahrten über nächtliche Landstraßen bescheren uns Sichtungen der scheuen Gesellen, manchmal leider auch eine Kollision. Diese scheinbare Verschiebung der Aktivitäten hängt mit unserer Orientierungsfähigkeit zusammen. Wird es dunkel, fehlt uns die Sicht, und auf Ohren und Nase können wir uns nicht verlassen. Daher würde niemand in der Dunkelheit einen Marsch durchs Gelände antreten. Und das hat sich unter den Wildtieren herumgesprochen. Im Dunkeln knallt es nicht, sind die Räuber orientierungslos und nur dann können Reh und Hirsch gefahrlos auf offener Fläche fressen. Tagsüber hingegen, wenn wir voll einsatzfähig sind, verziehen sich die ängstlichen Tiere in den Wald und die Dickichte. Dort schlafen sie keineswegs, sondern äsen immer weiter. Mangels Gras und Kräutern machen sie sich an Blättern, Knospen und Baumrinde zu schaffen. Das schmeckt zwar nicht ganz so gut, füllt aber den Magen. Die Schäden an den jungen Laubbäumen verschärfen sich dadurch erheblich, was hausgemacht ist.
    Würden keine Menschen, sondern Raubtiere jagen, dann würde sich das Verhalten rasch ändern. Da die Sicht im dichten Wald nicht so gut ist, bleibt man bei Gefahr durch Beutegreifer auch tagsüber lieber am Waldrand, auf offenem Feld oder im Hochgebirge. An diesen Stellen kann man weit sehen und können sich Wolf und Luchs nicht gut anschleichen.
    Buchen- und Eichenkinderstuben sind unübersichtlich und werden gemieden. Tierische Jäger lenken das Wild also dorthin, wo es dem Wald weniger schadet, und reduzieren nebenbei auch den ausgeuferten Bestand noch etwas. Und genau deshalb würde ich die Jagd liebend gern in die Hände der Vierbeiner zurückgeben. Bei gleichzeitigem Verbot der Jagd würde es nur wenige Monate dauern, bis sich Rehe und Hirsche auf die neuen Herren des Walds einstellten. Wie aufregend wäre dann eine Wanderung durch Feld und Flur, bei der Sie sich den großen Säugetieren bis auf 50 Meter nähern könnten. Serengeti in Mitteleuropa, das wäre zu schön, um wahr zu sein. Dabei muss es noch nicht mal zwangsläufig zu einer Verlagerung der

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