Der schlafende Engel
Prolog
H IGHGATE C EMETERY IM N ORDEN L ONDONS ,
SECHS M ONATE ZUVOR
B lut klebte an seinen Händen. Warm und schwarz rann es an seinen Fingern hinab und tropfte auf den Weg vor ihm. Er hob die Hände und betrachtete fasziniert, wie es sich im silbrigen Mondschein von seiner Haut abhob. Aber wessen Blut war es? Von wem stammte es? Und wie war es dorthin gekommen?
Hinter ihm ertönte ein Knacken. Sein Körper spannte sich an, während er eindringlich lauschte. Er hörte das Platschen des Regens auf den Blättern über ihm, wie sich die Tropfen zusammenschlossen und in dicken, fetten Rinnsalen auf seinen völlig durchnässten Rücken fielen. Aus dem Busch links neben ihm drang ein Scharren – ein Fuchs? Ein Dachs? Er hörte den Wind rauschen. Die Motorengeräusche von Highgate Hill. Den Schlag seines eigenen Herzens.
Und noch etwas anderes.
Er zog sich in die Schatten zurück, gestattete der Dunkelheit des Friedhofs, ihn wie eine Decke einzuhüllen. Er war sein Zuhause. Der einzige Ort, der ihm das Gefühl gab, ganz er selbst zu sein; ein Ort, an dem er nicht länger den verstohlenen Blicken und den finsteren Mienen ausgesetzt war – und diesem Hunger. Zumindest für eine Weile.
Wieder blickte er auf seine Hände hinab. Es war zu dunkel, um etwas zu erkennen, trotzdem spürte er die Schrammen – tiefe Furchen, als hätte irgendetwas seine Klauen durch seine Haut gezogen. Er registrierte den Schmerz in seinem Knie; seine Jeans waren zerrissen, und überall klebten Blätter und Schmutz.
War ich in einen Kampf verwickelt?
»Denk nach, verdammt«, stieß er hervor und presste sich die Fingerspitzen gegen die Schläfen. Wenn er ganz reglos dastand, sah er einzelne Bilder aufflackern: Ein Mann. Ein Mann mit tiefschwarzen Augen und Zeichnungen auf Brust und Armen, einem Stern auf der Schulter. Ein hübsches Mädchen mit glänzendem blondem Haar. Und Musik – sehr laute Musik, so laut, dass sie in seinen Ohren schmerzte.
Aber das war vor langer Zeit – oder? Oder war es erst gestern gewesen?
Dann waren die Bilder auf einmal verschwunden, zerplatzt wie Seifenblasen, denn seine Augen waren plötzlich weit geöffnet, all seine Sinne hellwach. Etwas näherte sich.
Er begann zu laufen, rannte an der Mauer entlang, den Hügel hinauf. Zu seiner Linken tauchte das alte schwarze Tor auf. Geduckt pirschte er darauf zu. Seine Atemwölkchen hoben sich gegen die Finsternis ab. Vor ihm befand sich ein überwucherter Pfad. Da lag etwas, mitten auf dem Weg, eine Gestalt. Ein Mensch, noch lebendig. Er bewegte sich.
»Isabelle?«, flüsterte er. Isabelle? Der Name war ihm einfach in den Sinn gekommen, aus heiterem Himmel. Aber ich kenne doch niemanden, der so heißt. Oder etwa doch?
Seine Nasenflügel bebten. Es roch auch nach etwas anderem. Nach Blut. Viel Blut. Und nach etwas Schlimmem. Nicht nach einem der Bluter, die ihren Eigengeruch mit diesem ekelhaften Gestank nach künstlichen Blumen übertünchten, sondern nach einem von seiner Art. Nach einem, den der Geruch des Todes umgab.
Wieder spannte er sich an, als ein hohes Kreischen ertönte, das sich wie ein Schmerzenslaut anhörte – dann noch einer. Füchse? Ratten? Er wusste es nicht. Seine Sinne verloren an Schärfe, während sich die Dunkelheit über ihn zu legen schien und wie ein dichter Nebel alles Licht verschluckte.
»Hallo? Ist da jemand?«, fragte eine Stimme. Erhellt vom Schein einer leise zischenden Straßenlaterne, hob sich ein Schemen im geöffneten Tor ab. Es war ein Mädchen, so viel verriet ihm ihr Geruch. Aber nicht irgendein Mädchen, sondern sie .
Oh Gott . Es kommt . Das Ding. Das Ding mit den Augen.
Er sprang auf, stürzte auf sie zu und riss sie mühelos von den Füßen, rannte den Weg vollends hinauf und auf die Straße.
»Los, schnell!«, zischte er.
Das dunkelhaarige Mädchen sah ihn an. Der Mondschein fing sich in ihren Zügen.
Sie ist bildschön , dachte er. Bildschön und …
»Los, weg hier«, schrie er. »Los!«
Er wandte sich um und tauchte in die Dunkelheit ein, die ihn sofort verschluckte.
Erstes Kapitel
E s herrschte schönes Wetter, als April aus dem Zug stieg. Die Sonne schob sich durch die weißen Wolken, trotzdem gelang es ihr nicht, die Kühle zu vertreiben. Spätfrühling in England , dachte April. Sollte es nicht längst warm sein und überall blühen? Kleine Atemwölkchen schwebten vor ihrem Mund, während sie fröstelnd den Schildern vom Bahnsteig zu den schmiedeeisernen Friedhofstoren folgte.
Fiona, ihre beste
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