Der Wanderchirurg
keinem dieser Gegenstände wurde man satt. Ein paar Wochen hatte er sich durchgeschlagen, indem er den Fischern beim Netzeflicken half. Dann war er nach Osten weitergezogen und hatte sich als Wasserholer verdingt. Die Arbeit war sehr hart gewesen. Er hatte sie schon nach wenigen Tagen wieder aufgeben müssen. Sein Körper war schwächer und schwächer geworden. Deshalb hatte er der Küste wieder den Rücken gekehrt, in der Hoffnung, landeinwärts sein Brot verdienen zu können. Wegen der unsicheren Zeiten wäre er gern zu zweit oder zu dritt marschiert, doch niemand hatte sich gefunden, der denselben Weg nahm wie er. So hatte er sich, wie schon zuvor, auf seinen mannshohen Stecken verlassen müssen.
Eines Morgens, er wanderte gerade durch ein ausgetrocknetes Flussbett, hatte er ein liebliches Tal erblickt, an dessen Ende, dort, wo die Hänge bereits wieder sanft anstiegen, ein uraltes Zisterzienserkloster stand - Campodios. Er hatte den Stecken in den Boden gerammt und sich schwer atmend darauf gestützt. Andächtig hatten seine scharfen Augen den von strengen Regeln geprägten Baustil bewundert. Er hatte die lange, kreuzförmige Basilika erkannt und an der Ostseite des Querhauses eine Reihe von Kapellen entdeckt. Die gesamte Anlage mit ihren einfachen Formen, den hohen Rundbogenfenstern und den roten, spitz zulaufenden Satteldächern hatte einen tiefen Eindruck auf ihn gemacht. Und er hatte die Unerschütterlichkeit gespürt, die diesen Mauern innewohnte. Dann, plötzlich, war ihm, als wolle der Stecken sich seiner Hand entwinden, doch konnte er sich auch getäuscht haben, weil er im gleichen Augenblick ohnmächtig wurde. In jedem Fall war Campodios sein Schicksal und seine Erfüllung geworden.
Eine rasche Bewegung schreckte Hardinus auf.
Pater Cullus stand vor ihm mit einem Becher Wasser.
»Ganz frisch aus dem Brunnen, Ehrwürdiger Vater!«
»Danke, lieber Cullus.« Hardinus nahm schlürfend einen Schluck, während seine Gedanken wieder in die Gegenwart zurückkehrten. Er fragte sich, wie die Brüder wohl seine letzten Wünsche aufnehmen würden - besonders Pater Thomas. Thomas war ein großer, ernster Mann von asketischer Gestalt, der sich seit frühester Jugend der Cirurgia und der Kräuterheilkunde verschrieben hatte. Er war Autor eines Werkes namens De morbis hominorum et gradibus ad sanationem, kurz De morbis genannt, eintausendzweihundert Seiten stark, mit prachtvollen Illustrationen. Ein Werk, das ihn mit Stolz erfüllte - und deshalb manchmal dazu verleitete, Novizen, die des Lateinischen nicht so mächtig waren, die Übersetzung des Titels gleich mitzuliefern: Von den Krankheiten der Menschen und den Schritten zur Heilung. So gesehen, bildete das Buch für ihn auch eine ständige Mahnung, dass Stolz eine Untugend war.
Seine Hände waren die eines Chirurgen, lang, schmal und außerordentlich geschickt. Schon manches Mal waren sie seine wichtigsten Instrumente gewesen. So auch vor einigen Jahren, als Pater Cullus es zu lange versäumt hatte, seinen stark entzündeten Daumen behandeln zu lassen. Am Ende hatte der Finger wie eine Runkelrübe ausgesehen. Eine Amputation war unvermeidlich geworden. Dennoch konnte Cullus sich nicht beklagen: Durch Thomas'
ärztliche Kunst und Vitus' geschickte Assistenz war die Operation ohne Komplikationen verlaufen, wenngleich der Daumen ihm fortan fehlte. Doch war es ohnehin nur der linke. So tat der Verlust weder seinem fröhlichen Gemüt noch seinem nie endenden Appetit Abbruch. Daneben Gaudeck, der die Mathematik so liebte! Seit mehreren Jahren leitete er astrologische Seminare, die sich unter den Brüdern großer Beliebtheit erfreuten. Auch einen regen Schriftwechsel führte er, unter anderem mit einem gewissen Tycho Brahe, einem für seine jungen Jahre schon recht berühmten dänischen Astronomen. Ja, Gaudeck ist ein kluger Kopf und ein treuer Freund!, dachte Hardinus. Er wird mir ein guter Nachfolger sein.
Endlich war da noch Vitus, sein persönlicher Schützling, den er wie einen Sohn liebte. Mit ihm würde er ganz zuletzt reden.
Allein.
»Thomas, würdest du mir einen Wunsch erfüllen?«
»Alles, was in meiner Macht steht, Ehrwürdiger Vater.«
»Ich möchte, dass du dein Wissen um die Heilmöglichkeiten nicht nur in Buchform festhältst, sondern es mit möglichst vielen Menschen teilst.« »Aber Ehrwürdiger Vater, wie soll das geschehen?« In Pater Thomas' Gesichtszügen begann es zu arbeiten.
»Ich möchte, dass du eine Schule aufbaust, in der du den
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