Morland 02 - Die Blume des Bösen
Jan Mersbeck blinzelte durch das geöffnete Fenster in die tief stehende Morgensonne und nippte vorsichtig an seinem heißen Tee. Über den Wiesen stieg milchiger Dunst auf, während der Himmel, in dem die ersten Vögel ihre Kreise zogen, bereits blau erstrahlte. Die kühle Luft war satt vom Geruch frisch gemähten Grases und harziger Nadelbäume. Es würde ein perfekter Frühsommertag werden. Mersbeck seufzte. Er hätte am liebsten freigenommen, seine Angeltasche gepackt, um hinauf zu dem kleinen See zu wandern, der zwei Stunden von Vilgrund entfernt inmitten eines einsamen Tales lag. Aber er konnte sich heute keinen freien Tag leisten. Seine Aufgabe war zu verantwortungsvoll.
Mersbeck tunkte sein Milchbrötchen in den Tee und biss, leicht vornübergebeugt, vorsichtig hinein. Dennoch konnte er nicht verhindern, dass etwas von der Flüssigkeit auf seine Hose tropfte. Er stieß mit vollem Mund einen leisen Fluch aus, stellte Teller und Tasse auf den Küchentisch und ging ins Bad, um das Malheur zu beseitigen. Mersbeck hatte den Fleck schon fast entfernt, als sein Blick an dem Spiegel hängen blieb, der über dem Waschbecken angebracht war. Er hielt inne. Er schaute seinem Spiegelbild geradewegs in die müden Augen. Dabei versuchte er zu lächeln, so als wollte er einen alten Bekannten grüßen, doch sein Gegenüber brachtenur einen skeptischen, fast verächtlichen Ausdruck zustande. Mersbeck senkte wie ertappt seinen Blick, spülte den Lappen unter dem Wasserhahn aus und legte ihn zum Trocknen über den Rand des Beckens.
Die Reste des kargen Frühstücks rührte er nicht mehr an. Mersbeck knöpfte seine Weste zu, dann richtete er vor dem Garderobenspiegel das Halstuch über dem Hemdkragen. Dieses allmorgendliche Ritual schloss er mit dem Aufziehen der Taschenuhr ab. Schließlich nahm er die Jacke vom Kleiderbügel und griff sich die abgewetzte Aktentasche, die neben dem Schirmständer stand.
Mersbeck zog die Haustür hinter sich zu und überlegte kurz, ob er den Wagen anheizen sollte, der vor dem Holzschuppen stand. Doch er entschied sich dagegen. Stattdessen hängte er die Aktentasche an den Lenker seines Fahrrads und schwang sich auf den Sattel.
Auf den Feldern arbeiteten bereits die Bauern, um die anstrengendsten Verrichtungen noch vor den heißen Mittagsstunden zu erledigen. Mersbeck winkte ihnen im Vorüberfahren zu und sie erwiderten den Gruß freundlich, ja geradezu respektvoll. Er war in Vilgrund ein hoch angesehener Mann. Nicht nur, weil er der »Herr Doktor« war, sondern weil er sich trotz seiner Tätigkeit für die Regierung immer in Zurückhaltung übte und sich nicht in dörfliche Angelegenheiten einmischte.
Wenn man Teil des Kollektivs war, wurden andere Dinge wichtiger.
Die Straße zur Station 9 hatte man vor zwei Jahren ausgebaut, und Mersbeck war ein geübter Radfahrer. Er tratkräftig in die Pedale und bezwang die wenigen Steigungen mühelos im Sitzen, ohne dass sich sein Puls sonderlich beschleunigte.
Nein, er wollte nicht undankbar sein. Manche Dinge in seinem Leben hatten sich seit der Aufnahme ins Kollektiv wirklich zu seinem Nutzen verändert, obwohl er die Nachteile immer schwerer verdrängen konnte. Mersbeck holte tief Luft und ließ mit halb geschlossenen Augen das Spiel von Licht und Schatten der vorüberziehenden Bäume auf sich wirken. In konzentrierter Gelassenheit leerte er seinen Geist und dachte – an nichts. Darin war er gut. Es war der einzige Weg, sich dem Kollektiv zu entziehen: nicht fühlen, nicht denken.
Nach einer halben Stunde lichtete sich der Wald und gab den Blick auf die ersten Treibhäuser frei. Durch die leicht beschlagenen Scheiben sah Mersbeck eine Gruppe von Wissenschaftlern miteinander diskutieren, sattgrüner Weizen reichte ihnen bis an die Hüften.
Die Tarnung in Gestalt einer riesigen landwirtschaftlichen Anlage, die man für diese Station gewählt hatte, war kein reiner Selbstzweck. Die meisten Forscher waren Biologen, Chemiker und Botaniker. Sie arbeiteten mit Nachdruck an ertragreichen, dem nörd lichen Klima angepassten Getreidesorten. Es hatte sich gezeigt, dass die Gegend östlich von Vilgrund für Züchtungen dieser Art besonders geeignet war, da hier die Mutationen, die von einer Pflanzgeneration zur nächsten immer wieder auftraten, das natürliche Maß bei Weitem übertrafen. Niemand hatte eine Ahnung, was die Ursache dafür war; man vermutete aber, dass es in der Näheetwas geben musste, was diese beschleunigten
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