Der Wanderchirurg
Kinns.
Alles in dem Gesicht war ihm so vertraut ... Vitus war kerngesund, von mittelgroßer Statur und angenehmen Körpermaßen. Damit nicht genug, hatte der Allmächtige in seiner Gnade noch mehr für ihn getan - und ihn mit einem besonders wachen Geist ausgestattet. Die Leistungen, die er in den Freien Künsten, den Artes liberales, und dazu der Cirurgia und der Pflanzenheilkunde zeigte, waren der beste Beweis dafür. Kein Wunder, dass er sich mit Pater Thomas so gut verstand.
»Ich werde versuchen, alle deine Fragen zu beantworten.« Der alte Mann nickte mit geschlossenen Augen. »Nun, du willst wissen, warum ich denke, dass du das Mönchsgewand niemals tragen wirst. Meine Antwort ist: Solange du diesen großen Wissensdrang in dir spürst, wirst du nicht in der Lage sein, deine ganze Kraft auf den Glauben zu konzentrieren. Und das genügt Gott nicht. Auch denke ich, dass du zu den Menschen gehörst, die für alles, was sie glauben sollen, einen Beweis brauchen. Gott aber hat es nicht nötig, sich zu beweisen.«
»Ich bete täglich darum, noch fester glauben zu können«, seufzte Vitus.
»Tröste dich, mein Sohn: Es gibt sehr viele berühmte Männer, die in ihrer Jugend genau wie du gezweifelt haben. Doch mit jedem Jahr, da sie mehr Wissen erworben hatten, stieg ihre Ehrfurcht vor dem, was sie nicht wussten
- und ihre Ehrfurcht vor Gott.«
Eine Pause entstand zwischen ihnen. Vitus brauchte Zeit, um das, was der alte Mann gesagt hatte, zu verarbeiten. Aber es stimmte. Immer öfter hatte er sich in den letzten Monaten gefragt, ob er sich ein Leben wünschte, das Tag für Tag, Jahr für Jahr nach denselben Regeln ablief. Und tief in seinem Inneren war eine Stimme immer lauter geworden, die ihm zurief, dass dies nicht der Fall war. Doch wenn er im Kloster nicht bleiben konnte, wohin sollte er sich dann wenden?
»Wisst Ihr denn gar nichts über meine Herkunft, Ehrwürdiger Vater?«
»Ich will dir erzählen, was sich damals an jenem 9. März 1556 zutrug.«
»An meinem Geburtstag?«
»Genau genommen ist der 9. März nicht dein Geburtstag. Es ist der Tag, an dem ich dich fand. Aber wir haben ihn zu deinem Geburtstag erklärt.« Der Greis holte rasselnd Luft und sprach weiter: »Es war ungefähr zwei Stunden vor der Prim, unserem Gebet zur ersten Tagesstunde, als ich Campodios durch das Haupttor verließ, um nach Punta de la Cruz zu gehen. Dort lag ein Bauer im Sterben, den ich seit vielen Jahren kannte. Ein frommer Christ, der die Letzte Ölung wahrlich verdient hatte. Mit meinen Gedanken war ich schon bei den Worten, die ich ihm für seine letzte Reise sagen wollte, da hörte ich plötzlich ein Geräusch, das seitlich aus den wilden Rosen kam. Zunächst dachte ich, ich hätte mich verhört, doch alsbald ertönte es wieder. Vorsichtig näherte ich mich, denn ich glaubte, es handele sich um einen Wurf junger Katzen, der von seiner wehrhaften Mutter verteidigt würde. Um so überraschter war ich, als ich stattdessen ein Kind entdeckte, das in ein rotes Tuch gewickelt war.«
»Und dieses Kind war ich?«
»Richtig, mein Sohn. Doch lass mich weiter erzählen. Ich hob dich also auf und betrachtete dich eingehend. Ich verstand nicht viel von Säuglingen, aber zwei Dinge waren mir sofort klar: dass es sich um ein wenige Wochen altes Kind handelte und dass dieses Kind ernsthaft krank sein musste. Sein Gesicht hatte eine blaurote Farbe, und die kleinen Wangen fühlten sich eiskalt an, während der übrige Körper glühte. Nun, ich schaute mir die Sache genauer an und erkannte, dass ich einen Knaben im Arm hielt. Wie lange mag er schon in der Kälte liegen?, fragte ich mich. Mir war klar, dass hier sofort Abhilfe geschaffen werden musste! Ich kehrte noch einmal um und übergab dich Pater Thomas, in der Hoffnung, dass er dir helfen könne.
Erst am darauf folgenden Abend kehrte ich zurück nach Campodios, denn der alte Bauer war lange und schwer gestorben. Als ich durch die Tür des Krankenzimmers trat, sah ich schon an den Mienen der Umstehenden, dass es nicht gut um dich bestellt war. Der Befund lautete auf beidseitige Lungenentzündung. Keiner unter uns glaubte, dass du es schaffen würdest. Dennoch tat Pater Thomas alles, was in seiner Macht stand. Er flößte dir einen heißen, fiebersenkenden Weidenrindensud ein, rieb deine Brust mit Kampferöl ab, um dir das Atmen zu erleichtern, und machte kalte Wickel um deine winzigen Waden. Er kümmerte sich wirklich rührend um dich. Ich hatte ihn noch nie so gesehen.
Als
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