King City: Stadt des Verbrechens (German Edition)
EINS
Als das Telefon klingelte, lag Tom Wade neben seiner Frau im Bett und schlief. Noch bevor er abnahm, ahnte er ziemlich genau, was der Anruf bedeutete. Seit Tagen hatte er ihn gefürchtet.
»Ja«, flüsterte er und rollte sich auf den Rücken.
Alison bewegte sich neben ihm und murmelte irgendetwas Unverständliches.
»Vor einer halben Stunde haben wir sie uns alle gegriffen.« Es war Karl Pinkus, der Staatsanwalt, mit dem Wade im Justizministerium zusammengearbeitet hatte.
Wade warf einen Blick auf den Wecker. Es war zwei Uhr morgens. Die grün leuchtenden Ziffern spiegelten sich in seiner Marke, die auf dem Nachttisch lag.
Er konnte sich gut vorstellen, wie die Sache abgelaufen war. Einsatzteams von FBI und ATF, dem Amt für Alkohol, Tabak, Schusswaffen und Sprengstoffe, hatten in der ganzen Stadt im exakt gleichen Moment bei allen sieben Männern die Türen aufgerammt, in der Hoffnung, sie nackt und wehrlos im Bett vorzufinden.
Es war ein standardisiertes Verfahren, um in derartigen Situationen jedes erdenkliche Risiko auf ein Minimum zu reduzieren und zu verhindern, dass eine der Zielpersonen vor dem bevorstehenden Zugriff gewarnt werden konnte.
Meistens funktionierte es.
»Um mir das zu erzählen, hätten Sie auch bis zum Morgen warten können«, sagte Wade und setzte sich auf.
»Es ist Morgen«, erwiderte Pinkus.
»Was ist schiefgelaufen?«, wollte Wade wissen. Inzwischen war auch seine Frau hellwach – er hörte es daran, wie sie atmete.
»Ich stehe vor Roger Maldens Haus. Er will Sie sprechen, Tom.«
»Ich habe ihm nichts zu sagen.«
»Offenbar liegt ihm etwas äußerst Wichtiges auf dem Herzen«, entgegnete Pinkus. »Er hat seine Frau und seine Kinder als Geiseln genommen, und wenn Sie sich nicht schleunigst hierher bewegen, wird er die beiden töten.«
»Ich bin in vier Minuten da«, erklärte Wade und legte auf.
Roger wohnte nur zwei Meilen entfernt in einem Reihenhaus, das den gleichen Grundriss besaß wie Wades. Sie hatten sogar denselben Poolboy. Aber da hörten die Gemeinsamkeiten dann auch schon auf.
Wade warf die Decke zurück und stand auf. Nackt ging er zu dem Stuhl, über den er am Abend seine Sachen gelegt hatte – ein Sweatshirt und Jeans. Er spürte Alisons Blick in seinem Rücken, während er sich das Shirt über den Kopf zog.
Wade war eins achtzig groß, schlank und fit. Er besaß Hände, die daran gewöhnt schienen, mit einer Axt, einer Schaufel oder einer Spitzhacke umzugehen, doch das lag mehr an seinen Genen als an harter körperlicher Arbeit, obwohl er sich, bevor er zur Polizei gegangen war, viel handwerklich betätigt hatte.
»Was ist passiert?«, fragte Alison.
Sie war an die nächtlichen Anrufe gewöhnt, allerdings nicht an Wades besorgten Unterton während des kurzen Gesprächs. Er wusste, dass ihr das nicht entgangen war.
»Eine Geiselnahme«, erwiderte er und drehte sich zu ihr um, während er seine Hose hochzog und den Gürtel schloss.
Alison saß aufrecht im Bett, ihre Nacktheit kümmerte sie dabei nicht. Wade hätte so entblößt niemals ein Gespräch führen können, doch ihr schien das überhaupt nichts auszumachen. Im Halbdunkel sah sie noch genauso aus wie in der Nacht vor zwanzig Jahren, als sie das erste Mal miteinander geschlafen hatten.
»Aber du bist doch kein Verhandlungsführer«, wandte sie ein.
Eigentlich hatte er es ihr unter anderen Umständen sagen wollen. Seit Wochen ging er in Gedanken durch, wie er es formulieren, wie er ihr die zwei langen Jahre voller Ausreden erklären sollte.
»Es ist Roger. Er droht damit, seine Familie umzubringen.«
Seine Worte verschlugen ihr buchstäblich den Atem. Sie schüttelte den Kopf. »Nein, das glaube ich nicht. Nicht Roger.«
»Das FBI hat heute Nacht bei ihm eine Razzia durchgeführt, Ally. Er steht unter Korruptionsverdacht.«
»Das ist doch verrückt«, sagte sie. »Er ist ein guter Mensch.«
»Alle Mitarbeiter der MCU sind festgenommen worden.«
Sie starrte ihn an, und langsam dämmerte es ihr. »Aber dich haben sie nicht abgeholt.«
Er griff nach seiner Marke. »Wir reden darüber, wenn ich zurück bin.«
Wade hängte sich die Marke an einem Band um den Hals und verließ schnell das Schlafzimmer. Er fühlte sich, als würde er vor Alison davonlaufen. Und er war noch niemals vor irgendetwas davongelaufen.
Detective Roger Maldens einstöckiges Haus war ausgeleuchtet wie ein Filmset. Flutlichtbatterien, die auf Hängern montiert waren, tauchten es in gleißendes Licht.
Die
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