Gestern, heute - jetzt
1. KAPITEL
Schon auf den ersten Blick verliebte sich Simone Duvalier in das elegante zweistöckige Hotel inmitten von Australiens bekanntester Weinbauregion. Also gut, es konnte sich nicht mit einem französischen Château aus dem siebzehnten Jahrhundert messen, aber wenn man schon eine Hochzeit am anderen Ende der Welt besuchen musste, dann entschädigte einen dieses pittoreske Anwesen doch sehr für die Mühe. Ganz offensichtlich lebte hier jemand mit einem Blick fürs Detail, was der perfekt gepflegte Garten und das stilvolle Gebäude eindeutig bewiesen.
Und was die Landschaft anging … Strahlend blauer Himmel, von Eukalyptusbäumen bewaldete Hügel, die sich am fernen Horizont abzeichneten, makellose Reihen von Weinreben entlang der Auffahrt … Simone hatte wilde Natur erwartet, aber hier war auch eine Ordnung zu entdecken, und das überraschte sie. Sie mochte Überraschungen. Dadurch wurde ihre Nervosität ein wenig überdeckt, die sie bei dem Gedanken befiel, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis sie Rafael Alexander wiedersah.
Rafe, der Ehrgeizige, der Getriebene, der Brillante.
Rafe, der Mann, den sie verschmäht hatte.
Ob er immer noch einen Groll gegen sie hegte? Nach fast neun Jahren? Sie würde es schon bald herausfinden.
Wenigstens hatte sie dafür gesorgt, dass er sie nicht hinauswerfen konnte. Das Land um das Hotel gehörte zu Rafaels Besitz, aber nicht das Hotel selbst. So sehr Gabrielle auch darauf beharrt hatte, dass die Hochzeit in Australien stattfand und nicht in Frankreich – als Ort hatte sie dieses Hotel gewählt und nicht das Weingut ihres Bruders.
Neutraler Boden. Simone war ihr dankbar dafür.
Mit grimmigem Lächeln fuhr sie die schmale Auffahrt entlang und stellte den gemieteten Audi auf dem Parkplatz hinter dem Hotel ab. Immerhin hatte sie einen vollen Tag, um sich auf die Begegnung mit Rafe vorzubereiten. Zeit genug, um sich von dem langen Flug und der anstrengenden Fahrt durch das enge Tal zu erholen. Zeit genug, um ein betont glückliches Lächeln aufzusetzen und sich der Situation zu stellen.
„Schritt für Schritt“, murmelte sie. Auf diese Weise war sie bis hierher gekommen. Indem sie einen Fuß vor den anderen setzte und sich dazu zwang, auf den Augenblick zuzugehen, den sie so fürchtete.
Courage, mon amie, hatte Gabrielle ihr zugeflüstert, als sie Simone verriet, dass die Hochzeit in Australien stattfinden würde und dass Rafe zugestimmt hatte, Lucs Trauzeuge zu sein.
Courage – dabei befahl ihr Instinkt, dass sie ihre Pflichten als Brautjungfer vergessen und flüchten sollte.
Doch Gabrielle ließ nicht mit sich reden. Es ist an der Zeit, dass du ihm gegenübertrittst. Genauso wie es an der Zeit ist, dass er dir gegenübertritt.
Courage.
Jetzt war sie hier. Endlich setzte sie ihren Fuß auf australischen Boden und stellte sich den Gespenstern der Vergangenheit – was auch immer dabei herauskommen mochte. Allerdings noch nicht sofort. Es reichte vollkommen, wenn sie es am nächsten Tag tat. Im Moment brauchte sie nur ihre Reisetasche, ihre Autoschlüssel, Gabrielles Kleid und ein Zimmer. Hoffentlich gab es im Hotel kein Problem. Ganz bewusst hatte Simone niemanden über ihre frühe Ankunft informiert, nicht mal das Hotelpersonal.
Das Foyer war im französischen Landhausstil gestaltet, auch wenn die fantastischen Blumenarrangements eindeutig australisch wirkten. Die junge Rezeptionistin empfing sie mit einem breiten Lächeln. Als sie die Kleiderhülle erkannte, die über Simones Arm lag, weiteten sich ihre Augen. „Oh“, murmelte sie und trat im nächsten Moment hinter der Rezeption vor, nicht um Simone das Kleid abzunehmen, sondern Reisetasche und Autoschlüssel. „Sie müssen Simone Duvalier sein. Wir haben Sie erst morgen erwartet.“
„Ich weiß. Aber es gab eine kleine Änderung im Flugplan. Ich kann nur hoffen, dass Sie trotzdem heute Nacht ein Zimmer für mich haben.“
„Sie kommen gerade erst aus Paris und sind die ganze lange Strecke hierher allein gefahren?“, fragte die junge Frau überrascht. Auf Simones Nicken hin bemerkte sie: „Kein Wunder, dass Sie erschöpft aussehen! Aber Sie haben Glück. Ich habe Ihr Zimmer heute Morgen vorbereitet, nur die Blumen fehlen noch.“ Sie bedeutete Simone, ihr durch den Gang, der vom Foyer abführte, zu folgen. „Ich werde Ihnen heute Nachmittag welche schneiden, wenn die Sonne nicht mehr auf sie scheint.“
„Die Blumen kommen aus dem eigenen Garten?“, fragte Simone angenehm überrascht,
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