Der Wanderer
aufbewahrte und von dem einzig er wusste.
Der Statthalter besuchte ihn, und er überlegte und sagte:»Dieser Krug soll nicht wegen eines bloßen Statthalters geöffnet werden.«
Und der Bischof der Diözese besuchte ihn, doch er sagte zu sich: »Nein, ich werde diesen Krug nicht öffnen. Der Bischof würde seinen Wert nicht erkennen, noch würde das Bukett seine Nase erreichen.«
Der Kronprinz kam und speiste mit ihm. Doch er dachte: »Es ist ein zu königlicher Wein für einen kleinen Prinzen.«
Und selbst an dem Tag, als sein eigener Neffe heiratete, sagte er zu sich: »Nein, nicht diesen Gästen soll der Krug aufgetragen werden.«
Und die Jahre vergingen, und er starb, ein alter Mann, und wurde begraben wie jeder Same und jede Eichel.
Und an dem Tag seines Begräbnisses wurde der uralte Krug zusammen mit anderen Weinkrügen hervorgeholt, und die Bauern der Umgebung teilten ihn sich. Und niemand wusste von seinem hohen Alter.
Für sie ist alles, was in einen Becher gegossen wird, einfach nur Wein.
Die zwei Gedichte
Vor vielen Jahrhunderten trafen sich auf der Straße nach Athen zwei Dichter, und sie freuten sich, einander zu sehen.
Und der eine Dichter fragte den anderen und sagte: »Was hast du in letzter Zeit verfasst, und was macht deine Lyra?«
Und der andere Dichter antwortete voller Stolz: »Ich habe gerade mein größtes Gedicht vollendet, das vielleicht größte Gedicht, das je in griechischer Sprache geschrieben wurde. Es ist eine Anrufung des allmächtigen Zeus.«
Dann zog er ein Pergament aus seinem Mantel hervor und sagte: »Hier, siehe, ich habe es bei mir, und ich würde es dir gern vorlesen. Komm, setzen wir uns in den Schatten jener weißen Zypresse.«
Und der Dichter las sein Gedicht vor, und es war ein langes Gedicht.
Der andere Dichter sagte freundlich: »Das ist ein großes Gedicht. Es wird die Zeiten überdauern und deinen Namen unsterblich machen.«
Und der erste Dichter sagte gelassen: »Und was hast du in letzter Zeit geschrieben?«
Der andere antwortete: »Ich habe nur wenig geschrieben. Nur acht Verse über ein Kind, das in einem Garten spielt.« Und er trug die Verse vor.
Der erste Dichter sagte: »Gar nicht schlecht; gar nicht schlecht.«
Und sie schieden voneinander.
Und jetzt, zweitausend Jahre später, werden die acht Verse des einen Dichters in jeder Sprache gelesen, und jeder liebt sie und hält sie in Ehren.
Und obgleich das andere Gedicht tatsächlich in Bibliotheken und Gelehrtenstuben die Zeiten überdauert hat und obgleich es unvergessen ist, wird es weder geliebt noch gelesen.
Frau Ruth
Drei Männer blickten einst von Ferne auf ein weißes Haus, das einsam auf einem grünen Hügel stand. Einer von ihnen sagte: »Das ist das Haus der Frau Ruth. Sie ist eine alte Hexe.«
Der zweite Mann sagte: »Du irrst dich. Frau Ruth ist eine schöne Frau, die dort einzig ihre Träumen lebt.«
Der dritte Mann sagte: »Ihr beide irrt. Frau Ruth ist die Herrin dieser ausgedehnten Ländereien, und sie saugt ihre Knechte erbarmungslos aus.«
Und sie setzten ihren Weg fort und sprachen weiter über Frau Ruth.
Und als sie an einen Kreuzweg kamen, begegneten sie einem alten Mann, und einer von ihnen fragte ihn und sagte: »Würdest du uns bitte von Frau Ruth erzählen, die in jenem weißen Haus dort drüben auf dem Hügel wohnt?«
Und der alte Mann hob den Kopf und lächelte sie an und sagte: »Ich bin neunzig Jahre alt, und ich erinnere mich an Frau Ruth noch aus der Zeit, da ich ein Junge war. Doch Frau Ruth starb vor achtzig Jahren, und jetzt steht das Haus leer. Bisweilen rufen die Eulen darin, und die Leute sagen, dass es dort spukt.«
Die Maus und die Katze
Eines Abends begegnete ein Dichter einem Bauern. Der Dichter war kühl, und der Bauer war befangen, doch sie kamen miteinander ins Gespräch.
Und der Bauer sagte: »Ich möchte euch eine kleine Geschichte erzählen, die ich kürzlich hörte. Eine Maus lief in die Falle, und während sie den Käse, der darin ausgelegt war, munter verspeiste, stand eine Katze dabei. Die Maus zitterte eine Weile, doch sie wusste, dass sie in der Falle sicher war.
Da sagte die Katze: ›Du isst deine Henkersmahlzeit, meine Freundin.‹
›Ja‹, antwortete die Maus, ›
ein
Leben habe ich und so auch einen Tod. Aber was ist mit dir? Man sagt, du habest sieben Leben. Bedeutet das nicht auch, dass du sieben Mal wirst sterben müssen?‹«
Und der Bauer blickte den Dichter an und sagte: »Ist das nicht eine merkwürdige
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