Ehrensache
1. Der Melkschuppen
Das Erstaunlichste an der Sache war, dass die Nachbarn sich nicht beschwert hatten, es noch
nicht mal bemerkt hatten, wie viele von ihnen später den Leuten von der Presse erzählten.
Jedenfalls nicht bis zu jener Nacht, als ihr Schlaf von einer plötzlichen Betriebsamkeit auf der
Straße gestört wurde. Autos, Minibusse, Polizisten, das Rauschen und Knistern von Funkgeräten.
Nicht dass es übermäßig viel Lärm gegeben hätte. Die Aktion wurde sogar dermaßen stilvoll und so
zügig durchgeführt, dass manche die ganze Aufregung verschliefen.
»Ich erwarte von Ihnen Höflichkeit«, hatte Chief Superintendent »Farmer« Watson seinen Männern an
jenem Abend im Besprechungsraum erklärt. »Es mag zwar ein Hurenhaus sein, aber es befindet sich
auf der richtigen Seite der Stadt, wenn Sie verstehen, was ich meine. Man kann nie wissen, wer
sich dort gerade aufhält. Vielleicht treffen wir ja sogar unseren lieben Chief Constable.«
Watson grinste, um zu signalisieren, dass dies ein Scherz sein sollte. Aber einige Beamte im
Raum, die den CC besser kannten, als Watson das offenbar tat, tauschten vielsagende Blicke und
grinsten spöttisch.
»Also gut«, sagte Watson, »dann wollen wir den Angriffsplan noch einmal durchgehen...«
Mein Gott, das macht ihm richtig Spaß, dachte Detective Inspector John Rebus. Er genießt jede
einzelne Sekunde.
Und warum auch nicht? Schließlich war das Watsons geistiges Kind, und es sollte eine Hausgeburt
werden. Das hieß, Watson trug die volle Verantwortung dafür, von der unbefleckten Empfängnis bis
zur unbefleckten Entbindung.
Vielleicht hatte das etwas mit den männlichen Wechseljahren zu tun, dieses Bedürfnis, ein
bisschen die Muskeln spielen zu lassen. Die meisten Chief Supers, die Rebus in seinen zwanzig
Jahren bei der Polizei erlebt hatte, hatten sich damit zufrieden gegeben, Papiere zu
unterschreiben und auf die Pensionierung zu warten. Doch nicht Watson. Watson war wie Channel
Four - voller unabhängiger Sendungen, die nur wenige interessierten. Er wirbelte nicht gerade
große Wellen auf, aber er plantschte wie der Teufel.
Und nun schien er sogar einen Informanten zu haben, irgendein unsichtbares Wesen, das ihm das
Wort »Bordell« ins Ohr geflüstert hatte. Sünde und Ausschweifung! Das hatte in Watsons hartem
presbyterianischem Herz heiligen Zorn entfacht. Er war ein typischer Highland-Christ, der Sex in
der Ehe gerade noch akzeptabel fand - sein Sohn und seine Tochter waren Beweis dafür -, alles
andere jedoch kategorisch ablehnte. Wenn es ein Bordell in Edinburgh gab, dann würde Watson dafür
sorgen, dass es geschlossen wurde.
Doch dann hatte der Informant ihm die Adresse genannt, und das hatte ein gewisses Zögern
hervorgerufen. Das Bordell lag nämlich in einer der besseren Straßen der New Town, ruhige
georgianische Häuserreihen, gesäumt von Bäumen, Saabs und Volvos. In den Häusern lebten
Akademiker: Anwälte, Ärzte, Professoren. Das war kein Seemannspuff, nicht ein paar dunkle,
feuchte Zimmer über einer Hafenkneipe. Das war, wie Rebus selbst zum Besten gegeben hatte, ein
Etablissement für die Etablierten.
Watson hatte diesen Scherz nicht verstanden.
Mehrere Tage und Nächte wurde mit nicht gekennzeichneten Autos und unauffälligen Zivilbeamten
Wache gehalten. Bis es kaum noch einen Zweifel gab: Was auch immer in den Räumen hinter den
geschlossenen Fensterläden geschah, geschah nach Mitternacht, und dann ging es ziemlich lebhaft
zu. Eigenartigerweise kamen nur wenige der zahlreichen Männer mit dem Auto an. Doch ein wachsamer
Detective Constable, der mitten in der Nacht pinkeln ging, entdeckte, warum. Die Männer parkten
ihre Autos in Seitenstraßen und gingen zu Fuß zum Eingang des vierstöckigen Hauses. Vielleicht
gehörte das zu den Regeln des Hauses. Das Knallen von Autotüren zu so später Stunde würde in der
Straße Misstrauen erregen. Oder vielleicht war es auch im eigenen Interesse der Besucher, ihre
Autos nicht in der hell erleuchteten Straße abzustellen, wo sie möglicherweise erkannt werden
könnten...
Kraftfahrzeugkennzeichen wurden aufgenommen und überprüft, ebenso Fotos von den Besuchern des
Hauses.
Außerdem machte man den Eigentümer des Hauses ausfindig. Neben diversen Häusern in Edinburgh
gehörte ihm die Hälfte von einem Weingut in Frankreich, und er lebte das ganze Jahr in Bordeaux.
Sein Anwalt hatte das Haus an eine Mrs. Croft vermietet, eine sehr distinguierte Dame Mitte
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