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Der Weg in die Verbannung

Der Weg in die Verbannung

Titel: Der Weg in die Verbannung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liselotte Welskopf-Henrich
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fing er an, sich Geschichten von ganz und gar zufälligen, aber höchst spannenden Begegnungen mit den Kindern des Lords auszudenken. Die Pause begann, und er fand die Möglichkeit, sich leise mit Cate zu unterhalten. Es war wunderbar, daß er sich seine Geschichten mit dem kleinen Mädchen zusammen ausdenken konnte. Sie war wirklich schon sehr vernünftig für ihr Alter, fand er.
    Tante Betty versuchte zu horchen, was die Kinder zu tuscheln hatten. Aber da die drei unbekannten Herren gegangen waren und Herr Finley in die Loge herüberkam, wurde ihre Aufmerksamkeit von dem Gespräch mit diesem in Beschlag genommen.
    Von der Manege aus gab ein Ansager bekannt, in der Pause könne die Tierschau besichtigt werden. Samuel Smith ergriff diese Gelegenheit, aus der Loge zu entkommen. Er nahm die beiden Kinder mit.
    Tante Betty fragte unterdessen Herrn Finley aus. Sie hatte natürlich beobachtet, daß einer der gepflegten Herren im Hinausgehen Herrn Finley erkannt und mit zurückhaltender Liebenswürdigkeit gegrüßt hatte. Finley mußte also wissen, wer diese Herren waren!
    »Der eine ist ein Vertreter der Kreditbank«, teilte er Tante Betty mit unterdrückter Stimme mit. »Nach den Gesprächsfetzen, die ich aufgefangen habe ­ ganz unfreiwillig, versteht sich ­, sind der Bank im Winter wohl einige Gelder in diesem Zirkusunternehmen hier festgefroren, und die will sie jetzt wieder auftauen. Der zweite Herr scheint mir ein Manager des Riesenzirkus B & B zu sein, vielleicht hat er Interesse zu fusionieren ­ ­ oder sich einige Nummern herauszufischen. Wer der dritte war, kann ich nicht sagen. Ich kenne ihn nicht, und er hüllte sich vollständig in Schweigen.«
    Frau Finley kam ebenfalls zu Tante Betty herüber. In der Loge, in der sie saß, auf den Stühlen Nr. 4, 5 und 6, hatten sich Personen niedergelassen, die nach ihrer Ansicht nicht vertrauenswürdig wirkten: ein maskulines Individuum und zwei markante, aber nicht eben solide wirkende weibliche Personen. In diesen Städten an der Grenze der Zivilisation war man vor dem Pöbel nirgends sicher! Vielleicht war der große, verwegen aussehende Mensch irgendein Digger, der einen guten Fund gemacht hatte und sich nun ohne weiteres in dieselbe Loge mit einer Familie setzen konnte, die Vorfahren hatte. Frau Finley war froh, diese Sitzgemeinschaft wenigstens in der Pause aufgeben zu können.
    Der große Käfig für die Raubtiernummer, die nach der Pause bevorstand, wurde schon aufgebaut, die Hocker für die Raubtiere wurden hereingebracht, die Reifen zurechtgestellt.
    »Ob das bißchen Gitter uns im Ernstfall gegen bengalische Tiger sichern kann, Ann?«
    »Aber gewiß doch, Ladies«, sagte der unzivilisierte und verwegen aussehende Mensch in der Nachbarloge, ohne angesprochen zu sein. »Wenn sich aber eine Bestie schlecht benehmen sollte, knalle ich sie einfach ’runter. Seien Sie ganz ohne Sorge!«
    Tante Betty zog ein Fläschchen mit Erfrischungswasser und betupfte sich das Gesicht, noch weniger aus Angst vor den Raubtieren als aus dem Bedürfnis, den aufdringlichen Menschen in seine Grenzen zu weisen.
    Harka hatte sich in den kleinen Raum im Wagen zurückgezogen, den er mit dem Vater bewohnte, und hatte auch Mattotaupa dort angetroffen. Der Junge riß den Reitdreß herunter, schminkte sich ab, löste die Zöpfe, so daß sie ihm wieder über die Schultern fielen, und sprang in die Hängematte, in der er sich zusammenrollte wie ein Igel, der rundum nichts als seine Stacheln zeigen will. Schon seit Wochen war er jedesmal in schlechter Stimmung, wenn die Eselsnummer abgespielt war. Er fand die Esel nicht mehr komisch, sondern lächerlich, seinen Anzug albern. Das Reiten mit Sattel und Steigbügel kostete ihn Anstrengung und sehr viel Aufmerksamkeit, da er es neu hatte erlernen müssen und es von ihm eine andere Gewichtsverteilung, eine ganz andere Art der Fühlungnahme mit dem Pferd verlangte als das sattellose Reiten, das er gewohnt war. Seitdem die Eselsnummer fertig durchgefeilt und bis zum letzten geübt war, wollte er nichts mehr davon wissen. Es ekelte ihn an, jeden Tag dasselbe zu tun, und wenn die Leute in diesen lauten und schlecht riechenden Städten der weißen Männer dem »Sohn des Lords« klatschten, hätte er am liebsten seinen Zylinder heruntergerissen, um ihnen zu beweisen, daß er der Sohn eines Häuptlings war und in die Prärie gehörte. Heute sollte dieser Konflikt auf irgendeine Weise gelöst werden, aber Harka wußte noch nicht wie. Der Vater hatte nichts

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