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Der Weg in die Verbannung

Der Weg in die Verbannung

Titel: Der Weg in die Verbannung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liselotte Welskopf-Henrich
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Armschienen geschützt. Auf dem Kopf trug der Dompteur einen Helm mit Raupe. Hinter dem Fallgitter des Laufkäfigs lauerte schon Tigra mit ihren bernsteingelben Augen. Ihre Pranke kratzte am Gitter, und als es hochgerissen wurde, lief sie rasch in die Manege. Ihr folgten gleich der männliche Tiger und etwas langsamer die vier Löwen. Die Löwen nahmen von selbst und mit gemächlichen Sprüngen ihre Plätze auf den Hockern ein. Sie zeigten dadurch, daß sie gut gezähmt und dressiert waren. Die drei Herren in Loge 7 runzelten die Stirn, alle drei gleichzeitig, wenn auch nicht aus denselben Motiven. Tigra war stehengeblieben und sah sich zweifelnd um. Ihre Schwanzspitze bewegte sich leise.
    »He! Tigra!« Ronald hob die Hand wie zum Gladiatorengruß.
    Die Tigerin setzte sofort an und schnellte mit einem Satz über einen Abstand von fünf Meter weg auf den Dompteur zu, den sie durch den Schwung ihres Sprungs und ihr Gewicht umwarf. Ein Schreckensschrei ertönte aus dem Publikum. Tigerin und Mensch wälzten sich im Sand der Manege; das Tier hatte den Mann mit den Pranken umfaßt. Endlich lag er still unter der Raubkatze, auf dem Rücken, unbeweglich, die Augen auf die Augen des Tigers gerichtet. Von der Stirn der gepflegten Herren verschwanden die Runzeln.
    Die Musik hatte ausgesetzt. Es war totenstill im Rund.
    Mit einer urplötzlichen Bewegung, deren Vorbereitung niemand erkannt hatte, warf Ronald die Tigerin, die ihre Krallen eingezogen hatte, beiseite. Mit zwei Sätzen war er bei dem Absprunghocker, schwang sich hinauf und gelangte mit einem Hechtsprung durch den auf einem Halter befestigten Reifen. Er kam mit den Händen auf, schlug einen Salto und stand gerade auf den Beinen, als Tigra, den vorbereiteten Absprungplatz verachtend, langgestreckt in hohem Sprung durch denselben Reifen glitt. Sie landete im Sand; Ronald war in dem letzten Bruchteil einer Sekunde beiseite gesprungen.
    »Tigra« rief er lobend, freundlich.
    Das Tier ging einen Meter zur Seite und duckte sich. Auf der anderen Seite der Manege fauchte der Tiger. Es war das erste Fauchen, das an diesem Abend laut wurde, und in der vollständigen Stille klang es unheimlich. Unter den hochgezogenen Lefzen waren die großen Reißzähne des Tigers sichtbar. Cate und Douglas wurden blaß. Die Tigerin befand sich nur wenige Meter von ihnen entfernt, wenn auch hinter Gittern. Tante Betty preßte das Taschentuch auf den Mund. In ihrer Aufregung vergaß sie die Kinder vollkommen.
    Für das Publikum nicht sichtbar, weit hinten im Dunkel des Manegenausgangs, stand Harka. Er sah nur Ronald, und er war der einzige, der wußte, worum Ronald spielte. Um seine Tiere spielte er und damit um sein Leben. Bei seinen Tieren wollte er bleiben, auch wenn er den Herrn und Geldgeber wechseln mußte. Jene gestriegelten Herren in der Loge sollten am Ende der Nummer sagen: »Große Klasse ­ den Mann können wir brauchen.« So wie im römischen Zirkus der Kaiser die Macht hatte, den Daumen zu heben oder zu senken, so hatten diese Männer in der purpurrot ausgeschlagenen Loge die Macht über Leben und Tod.
    Ronald war ein Risiko eingegangen, wie es der Dompteur nach den Regeln seiner Arbeit eigentlich nicht eingehen durfte und wie nur ein Mann es sich leisten konnte, der sich einer einzigartigen Gewalt über seine Tiere gewiß war. Er hatte beim Sprung durch den Reifen seine Tiere aus dem Auge lassen müssen, und seine Bewegung war ihrer einfachen Natur nach, wie Raubtiere sie begreifen konnten, eine Fluchtbewegung gewesen. Die Wirkung war deutlich. Die Raubtiere waren unruhig und selbstbewußt. Ein Löwe wollte von seinem Hocker heruntersteigen!
    »Bello! Auf!«
    Bello überlegte sich das. Aber dann sprang er mit einem ärgerlichen Laut wieder an seinen Platz. Die Bewegung seiner Schwanzquaste deutete weitere Überlegungen an. Der Tiger hatte zum zweitenmal und bösartiger gefaucht. Was Tigra tun würde, spielen oder anfallen, war noch ungewiß. Ronald griff nach dem zweiten Reifen, der ihm brennend durch das Gitter gereicht wurde.
    »Allez ­ hopp!«
    Tigra sprang. Wie unter Suggestion führte sie den Sprung, den sie schon geplant hatte, nun durch den brennenden Reifen hindurch aus, der ihr verhaßt war. Wieder flog der wunderbar gebaute Tigerkörper, geschnellt von der Kraft der Sehnen und Muskeln, wieder kam sie im Sande auf. Sie drehte Kopf und Oberkörper und äugte nach dem Mann; sie fauchte, ihre Augen glühten, der Schwanz spielte. Das Fauchen des Tigers mischte sich mit dem

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