Der Wind bringt den Tod
Motor heulte auf, als hätte er nur darauf gewartet, seine volle Kraft zu entfesseln.
148
»Er heißt nicht mehr Jan Nissen«, schrie Jule in ihr Handy, das sie sich zwischen Schulter und Ohr geklemmt hatte. Der Tacho zeigte 120 Kilometer pro Stunde. Die Häuser von Odisworth flogen an ihren Augenwinkeln vorbei wie im Zeitraffer. »Er heißt jetzt Rolf Behr.«
»Was?« Entweder war die Verbindung gestört, oder Jule hatte panischer geschrien, als es ihr bewusst war.
»Er heißt jetzt Rolf Behr«, wiederholte sie. Sie redete sich ein, ihre Stimme jetzt etwas besser unter Kontrolle zu haben. »Das Schwein heißt jetzt Rolf Behr.«
»Jule? Wo sind Sie?«
»Ich fahre zu ihm.« Sie hätte auch ohne die Hilfe des Navis, das ihren Weg vorzeichnete, verstanden, wohin sie musste.
»Nein, Jule, Sie fahren da nicht hin!«, versuchte Smolski, ihr zu befehlen. »Das ist Sache der Polizei.«
»Er hat meine Freundin«, schrie Jule. Er hatte Caro. Wenn Caro nicht schon tot und ihr geschundener Leichnam irgendwo im Wald versteckt war.
»Jule, Sie können nicht –«
Sie richtete einfach den Kopf auf. Sie wollte das nicht hören. Sie musste Caro helfen. Das Smartphone prallte gegen die Handbremse und landete im Fußraum. Es rutschte unter ihren Sitz, als sie scharf abbremste, um in den Waldweg einzubiegen.
149
»Wo steckst du, Hoogens?«, schnarrte Smolskis Stimme in Stefan Hoogens’ Ohr.
Hoogens kannte den Polen lange genug, um sofort zu verstehen, dass etwas nicht in Ordnung war. Dazu hätte er das laute Sirenengeheul im Hintergrund gar nicht gebraucht. »Auf der Wache in Kolkerlund. Ich schaue mir gerade an, was in dieser Tasche war –«
»Hör zu«, unterbrach ihn Smolski. »Schnapp dir so viele Leute, wie du kriegen kannst, und fahr raus zu diesem abgebrannten Gehöft in Odisworth, dem Haus von Fehrs’ Nachbar. Ich bin selbst auf dem Weg dahin.«
»Was ist los?«
»Frag nicht lange. Mach einfach.«
150
Das Gehöft erschien Jule noch unheimlicher als bei ihrem letzten Besuch. Das zersplitterte Dachgebälk erinnerte sie an das zahnbewehrte Maul eines urzeitlichen Ungeheuers, und die Schatten hinter den leeren Fensterrahmen rotteten sich zu einer einzigen Schwärze zusammen. Wollte sie wirklich dort hinein?
Ja, sie musste. Auch wenn der feigste Teil in ihr sie beharrlich anflehte: »Kehr um! Fahr mit Vollgas davon! Lass die Polizei Caro retten! Du weißt nicht einmal, ob sie wirklich in seiner Gewalt ist!« Jule widerstand diesen Einflüsterungen. Sie hätte es sich selbst nie verzeihen können, wenn Caro doch irgendwo auf dem Gelände gefangen gehalten wurde. Und was, wenn die Polizei zu spät eintraf? Was, wenn auch sie selbst bereits zu spät war?
Sie parkte den Wagen vor dem Traktor und stieg aus. Die Tür schlug sie nicht zu. Sie traute der Zentralverriegelung nicht mehr über den Weg.
Die Luft wies einen metallischen Geruch auf, der von einem nahenden Gewitter kündete. Der verrottete Strick der Schaukel ächzte im Wind, der noch ein weiteres Geräusch an ihr Ohr trug: ein regelmäßiges Wummern und Klopfen wie von einem großen Motor. Jule legte den Kopf schief, um das Geräusch zu orten.
Natürlich! Es kam ausgerechnet von dort. Aus der Scheune, deren Tor offen stand. Das Tor, das sich beim letzten Mal wie von Geisterhand geschlossen hatte. Sie ging darauf zu, der Schotter knirschte unter ihren Füßen.
Sie machte einen Bogen, um sich der Scheune seitlich zu nähern. Vor der Bretterwand angekommen, presste sie ihren Rücken gegen das verwitterte Holz. Zentimeter für Zentimeter schob sie sich auf das Tor zu. Als sie es erreicht hatte, rutschte sie erst Stück für Stück nach unten in die Hocke, ehe sie in das Innere der Scheune hineinspähte.
Sie sah dunkle schemenhafte Umrisse. Große Landmaschinen und Gerätschaften, wie schlafende Monster aus Metall. Ihre genauen Funktionen waren Jule ein Rätsel. Jede Einzelne von ihnen kam ihr jedoch bestens dazu geeignet vor, einem Menschen einen grauenhaften Tod zu bescheren. All die Haken, Dornen und Spitzen beschworen blutige Visionen von durchbohrtem Fleisch vor ihrem inneren Auge herauf. Sie hörte jemanden murmeln, ganz in ihrer Nähe. Sie erschrak darüber, und das Murmeln verstummte. War sie das selbst gewesen? Ja. Ihr Mantra gegen die Angst war ihr wie von allein über die Lippen gekommen. Was nicht verstummt war, war das rhythmische Motorengeräusch.
Sie machte seinen Ursprung in einer Ecke neben einer der großen Maschinen aus: ein
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