Der Wind bringt den Tod
hatte?
»Was ist das für ein Schlüssel?«, fragte Eva neugierig.
Jule ignorierte sie. Sie öffnete den zweiten Umschlag. Sie erkannte auf den ersten Blick, dass es sich bei dem mehrfach gefalteten Bogen Papier um den aktuellen Bebauungsplan von Odisworth handelte, den Andreas ihr angekündigt hatte. Auf dem Plan klebte ein gelber Post-it-Zettel. »Hoffe, das hilft dir weiter«, war alles, was darauf stand. Sie löste den Klebezettel von seiner Unterlage und knüllte ihn zusammen. Nein, das half ihr nicht weiter.
Ihre Meinung änderte sich umgehend, als sie erkannte, welchen Teil des Bebauungsplans Andreas’ kurze Nachricht verdeckt hatte: den, auf dem das Wäldchen eingezeichnet war, wo Jan Nissen zwei seiner Opfer verscharrt hatte und das zu Erich Fehrs’ Besitz gehörte.
Jule verschlug es den Atem.
Das angrenzende Grundstück – das mit dem ausgebrannten Gehöft – war auf diesem Plan wesentlich kleiner als auf dem, mit dem sie bisher gearbeitet hatte.
Ihre Kehle schnürte sich zu.
Unter dem verschachtelten Vieleck, das die Position des Gehöfts markierte, las sie einen Namen.
Er lautete nicht Jan Nissen.
Er lautete Jan-Rolf Behr.
»Er ist Jan«, brachte Jule fassungslos hervor. Für einen Moment war sie wie eine Fliege, die verzweifelt im Netz zappelte, weil ihr die Erschütterungen in den Fäden verrieten, dass ihr Tod unaufhaltsam näher kroch. »Er war Jan.«
»Ich dachte, Sie wüssten längst, wer Jan ist«, sagte Malte verwundert.
»Was?«
Maltes Brauen zogen sich eng zusammen. »Ich habe Sie doch neulich mit ihm gesehen. Im ›Dorfkrug‹. Beim Mittagstisch.«
»Das? Der Mann, bei dem ich da gesessen habe?« Jule unternahm eine letzte Anstrengung, ihre Hoffnung darauf zu retten, dass die Wirklichkeit nicht noch grausamer war, als sie es sich je hätte ausmalen können. »Das war doch Rolf Behr.«
»Behr, Behr …«, murmelte Eva vor sich hin. »War das nicht der Mädchenname von Jette Nissen?«
Klick.
Die Puzzleteile fügten sich ineinander, ganz gleich, wie sehr Jule sich auch dagegen wehrte. Nicht Andreas hatte seinen Namen geändert. Jan Nissen hatte seinen Namen geändert. In Jan-Rolf Behr.
Nicht die Schuld über von ihm begangene Morde hatte Andreas dazu verleitet, sich das Leben zu nehmen. Es war die Gewissheit oder zumindest die Ahnung gewesen, dass mindestens drei Frauen hatten sterben müssen, weil er jahrelang die Augen davor verschlossen hatte, wozu sein Freund aus Kindertagen fähig war.
Nicht Andreas war der Mann aus der alten Heimat, dem Kirsten Küver in Hamburg wiederbegegnet war. Es war Rolf gewesen.
Rolf hatte nicht zufällig so großes Interesse an ihr gezeigt. Er hatte sich ihr Stück für Stück weiter angenähert, weil sie Kirsten Küver wie aus dem Gesicht geschnitten war und damit genau in sein Beuteschema passte.
»Wollen Sie nicht rangehen?«, fragte Eva. Sie deutete in das Wageninnere. »Ihr Handy klingelt.«
Jule schaute auf das Display. Welche schockierende Eröffnung stand ihr jetzt bevor? Sie nahm den Anruf mit einem schwachen »Ja?« entgegen.
»Jule? Lothar Seger hier.« Er klang am Boden zerstört. »Ich weiß, Sie sind Freundinnen, und wahrscheinlich werden Sie es mir nicht verraten. Aber wissen Sie, wo Caro ist? Ich versuche seit Tagen, sie zu erreichen, aber sie meldet sich einfach nicht zurück. Das Letzte, was ich von ihr gehört habe, ist, dass sie einem Mann auf den Zahn fühlen wollte, ob er was für Sie wäre.«
Jule warf das Smartphone auf den Beifahrersitz, als wäre es ein glühendes Stück Kohle.
»Hallo? Hallo?«, kam es noch zweimal ganz leise von Seger. Dann blieb das Handy stumm.
Jule hatte Caro seit Sonntag nicht mehr zu fassen bekommen. Seit sie ihr von dem unglücklich geendeten Einkaufsbummel mit Rolf berichtet hatte.
Caro hatte Jule zwar hoch und heilig versprochen, sich in die Sache mit Rolf nicht einzumischen. Aber Caro war eben Caro. Es lag einfach in ihrem Wesen, ihre Nase ungefragt in anderer Leute Angelegenheiten zu stecken.
Caro hatte auf alle Anrufe nur einmal reagiert – mit einer knappen SMS, die jeder hätte senden können, der ihr Handy hatte.
Caro war groß und blond. Wie sie. Wie Kirsten.
Rolf bereitete seinen Opfern kein gnädig schnelles Ende. Er brachte sie an einen Ort, wo er sich sicher genug fühlte, um sie über mehrere Tage hinweg viehisch zu quälen und seine grausamen Fantasien an ihnen auszuleben. Und um sie schließlich umzubringen.
»Caro!« Jules Finger schoss zum Startknopf. Der
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