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Der Wind bringt den Tod

Der Wind bringt den Tod

Titel: Der Wind bringt den Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ole Kristiansen
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nicht.«

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    »Du hast wirklich tolle Brüste«, sagte er beeindruckt. »Das ist gut. Daran brauchen wir gar nichts zu machen.«
    Sie durfte sich nicht bewegen. Ganz still liegen bleiben. Nicht daran denken, was mit ihren Zehen passiert war. Sie spürte die Zehen noch, obwohl sie abgeschnitten waren. Wenn sie mit ihnen wackeln wollte, war da mehr als nur ein heißer Schmerz. Sie spürte, wie sich Haut und Muskeln spannten, die sich gar nicht mehr spannen konnten. Sie musste hier raus. Und wenn sie auf allen vieren aus ihrem Gefängnis kriechen würde. Er durfte nicht gewinnen. Sie hatte doch ihren Plan.
    Der erste Teil war so gut gelaufen. Er hatte ihr von dem seifigen Wasser gegeben. Sie hatte sich ganz schwach gestellt, als könnte sie nur wenige Schlucke davon trinken. Sie hatte getan, als würde sie schlucken, aber sie hatte das Wasser in ihrem Mund behalten. Deshalb musste sie jetzt so still liegen. Er musste glauben, dass sie eingeschlafen war. Dann würde er sie umziehen. Dann würde er sie losschnallen. Und dann kam der zweite Teil ihres Plans. Sie versuchte, nicht daran zu denken, dass dieser Teil vage und formlos war. Das war egal. Er würde sie losschnallen. Bald.
    Sie hörte das Rascheln von Stoff. Gut. Sie hörte seine Schritte, die auf dem Boden leise knirschten. Ja, jetzt. Sie jubelte stumm, als er die Riemen löste. Er fing unten bei ihren Knöcheln an und arbeitete sich langsam nach oben. Gleich. Gleich. Jetzt! Jetzt klirrte die letzte Schnalle, die ihre Schultern fixierte.
    Sie unterdrückte ein Zucken, als er seine Hand unter ihren Rücken schob und sie in eine sitzende Position aufrichtete. Sie ließ die Arme und den Kopf schlaff hängen. Das seifige Wasser schwappte in ihrem Mund. Seine Finger nestelten in ihrem Nacken. Er zog ihr das Leibchen aus. Sanft bettete er sie wieder flach auf der Liege. War das der Augenblick? Sollte sie es jetzt wagen?
    Sie öffnete ihre Augen einen winzigen Spalt. Da! Da war er! Er stand mit dem Rücken zu ihr. Er summte sein schreckliches Lied. In der linken Hand hielt er mit ausgestrecktem Arm einen Kleiderhaken vor sich in die Höhe, an dem eine lange Bahn aus weißem Stoff hing. Ein Brautkleid!
    Ihre Entschlusskraft wurde von roher Panik verschlungen. Ihre Zunge, die sie die ganze Zeit über an den Gaumen gepresst hielt, um das seifige Wasser nicht zu schlucken, drohte nach hinten zu rutschen. Nein! Nein! Sie hustete. Das seifige Wasser sprühte von ihren Lippen.
    Er drehte sich zu ihr um.
    Warum konnte sie nicht aufhören, zu husten? Warum? Warum?
    »Du schläfst ja gar nicht!«, grollte er.
    Sie wollte aufspringen, aber alles, was sie mit ihren geschwächten Muskeln zustande brachte, war, sich von der Liege zu rollen. Sie landete weich. Sand. Sie lag auf Sand.
    Sie versuchte, aufzustehen, aber da war er schon bei ihr und riss sie hoch. Ein unglaublicher Schmerz – reißend und glühend wie geschmolzener Stahl – schoss ihr von dort, wo ihre Zehen gewesen waren, bis in die Knie. Sie schrie. Nein! So konnte es nicht enden! Da! Da war seine Hand! Sie grub ihre Zähne in sein Fleisch. Er brüllte auf. Blut sprudelte ihr in den Mund. Warm und süß. Er zog seine Hand zurück. Ein Fetzen seiner Haut blieb zwischen ihren Zähnen. Sie schluckte ihn gierig und brach in die Knie. Sie sah seine Faust auf sich zurasen. Ein neuer Schmerz explodierte irgendwo zwischen ihrer Nase und ihrem Mund. Ihr ganzer Körper wurde nach hinten geschleudert. Sie stieß mit dem Hinterkopf gegen etwas Hartes. Dann wurde alles um sie herum schwarz.

146
     
    Lothar Seger rieb sich die zerschnittenen Knöchel mit einer Wundsalbe ein. Er hatte sie erst gestern, nach seiner Eröffnung an Jule, zum ersten Mal aufgetragen. Trotzdem fand er, dass sich der Schorf schon viel weicher anfühlte.
    Es war merkwürdig. Er hatte immer gedacht, seine Schuld wäre zu schwer, um sie je wieder von seiner Seele abwälzen zu können. Er hätte es besser wissen müssen. Gerade er.
    Er schraubte die Salbentube zu und sah zu seinem Telefon. Wie oft hatte er in den letzten Tagen versucht, sie anzurufen? Zwanzigmal? Dreißigmal? Warum wollte sie nicht mehr mit ihm reden? Weil sie spürte, dass er sie angelogen hatte? Wollte sie ihn vielleicht nie mehr wiedersehen? Würde sie ihm nie mehr anvertrauen, was sie dachte und fühlte?
    Dieser Gedanke war unerträglich für ihn. Es gab jemanden, der ihm sagen konnte, ob sie ihn für immer aus ihrem Leben verbannen wollte.
    Er musterte das Telefon, als wäre es zur

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