Der Wind bringt den Tod
gleichen Zeit sein bester Freund und ärgster Feind.
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Jule nahm sich viel Zeit beim Kofferpacken. Sie hatte Jonas bei der Polizei abgeliefert, kurz ihre Personalien hinterlassen und dafür gesorgt, dass die Mutter des Jungen informiert wurde. Danach war sie in die Pension gefahren.
Was sie fühlte, während sie zum letzten Mal ihre Abreise aus Odisworth vorbereitete, war eine Art stiller Wut. Sie war wütend auf sich selbst, weil sie die Idee, Andreas wäre ein kranker Serienmörder, so schnell und ohne echte Vorbehalte akzeptiert hatte. Sie war wütend auf Smolski, der ganz in seiner Rolle des selbstgerechten, allwissenden Ermittlers aufgegangen war. Sie war wütend auf Mangels, da der Odisworther Bürgermeister die gesamten letzten zwei Wochen über viel zu wenig getan hatte, um sie zu unterstützen, obwohl es von Anfang an in seiner Macht gestanden hätte, ihre Arbeit zu erleichtern. Und sie war wütend auf Schwillmer, der sie behandelt hatte wie ein wankelmütiger König seinen Leibeigenen.
Als sie den Koffer zuklappte, kam ihr Kirsten Küver in den Sinn. Falls Kirsten tatsächlich einfach nur alle Zelte in Deutschland abgebrochen hatte, konnte sie Jule gut verstehen. Sie gab sich einen Moment der Fantasie hin, ein altes Leben voller Zwänge, Unsicherheiten und Enttäuschungen hinter sich zu lassen, um eine halbe Welt entfernt ein neues zu beginnen.
Dann schleppte sie den Koffer hinunter ins Erdgeschoss, um sich von den Jepsens zu verabschieden. Beim Händeschütteln musterte Eva sie nachdenklich, als gäbe es noch etwas Wichtiges zu sagen, das jedoch unausgesprochen bleiben musste. Malte begleitete Jule zu ihrem Auto. Er ließ es sich nicht nehmen, ihr Gepäck eigenhändig im Kofferraum zu verstauen.
Sie war bereits halb eingestiegen, als er sie fragte: »Sie kommen doch aber mal wieder?«
»Sicher.« Jule zog die Tür zu. Es war eine Lüge, weil sie fest vorhatte, ihrem Chef eine Bedingung zu stellen: Sie war nur bereit, weiter für ihn zu arbeiten, wenn er ihr ein anderes Projekt zuteilte.
Sie verstaute ihr Smartphone in einem Fach in der Mittelkonsole, schnallte sich an und drückte den Startknopf für den Motor. Der Wagen sprang nicht an. Sie drückte den Knopf noch einmal.
Die Musik aus dem Radio war wie ein verhaltenes Flüstern. Jule nahm den Finger vom Startknopf. Ein leiser Schrecken wehte durch ihren Verstand. Sie kannte dieses Lied. Als sie es zum letzten Mal gehört hatte – hier, in diesem Wagen –, hatte es ohrenbetäubend laut aus den Boxen geschallt. ›Barbie Girl‹. Ein Echo der Panik, die auf dem Waldweg in ihr losgebrochen war, stieg in Jule auf. Die Hände wurden ihr feucht, der Mund trocken.
Es klopfte an der Scheibe. Jule riss den Kopf herum und starrte in das besorgte Gesicht von Malte Jepsen. »Stimmt was nicht?«, las sie ihm mehr von den Lippen ab, als es zu hören.
Das Radio verstummte.
»Halt! Halt!« Das anfangs gedämpfte Rufen wurde lauter. »Halt!«
Jule schaute zum Haus.
Eva rannte durch den Vorgarten. Sie wedelte hektisch mit einem braunen großformatigen Briefumschlag in der einen und einem kleineren weißen Umschlag in der anderen Hand. »Der Brief! Ich habe ihn doch noch gefunden!« Sie drängte sich neben ihren Mann vor die Fahrertür. »Machen Sie die Scheibe runter.«
Jule betätigte den elektrischen Fensterheber. Ihr war jede Ablenkung recht, um die Erinnerungen an ihre Erlebnisse auf dem Waldweg loszuwerden.
»Gott sei Dank habe ich Sie noch erwischt«, japste Eva. Sie überreichte Jule die Post von einem Toten. »In einem guten Haus geht eben nichts verloren.«
»Wo war er denn?«, wollte Malte wissen.
»Im Altpapier«, antwortete Eva. »Zwischen den Werbeprospekten. Weiß der Himmel, wie er da hingekommen ist. Der andere ist von heute Morgen.«
Jule wog den kleineren Umschlag in der Hand. Sie ahnte sofort, was sie darin finden würde. Sie riss den Umschlag auf und schüttelte den Schlüssel in ihre Handfläche. Andreas war bei der Einladung an sie auf Nummer sicher gegangen. Er hatte zwei Kopien seines Wohnungsschlüssels angefertigt. Die eine hatte er ins Büro, die andere nach Odisworth geschickt. Eine dumpfe Vermutung erwachte in ihr. War sie zu spät zu Andreas gekommen? Hatte er gar nicht geplant, dass sie ihn tot in seinem Schlafzimmer hängend fand? Hatte er sie eigentlich sehen wollen, um ihr das Geheimnis anzuvertrauen, von dem in seinem Abschiedsbrief die Rede gewesen war? Das große, das richtige Geheimnis, wie er es genannt
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