Der Winter tut den Fischen gut (German Edition)
ich schaue nur, der Winter tut den Fischen gut, sie bleiben frisch, nicht wahr. Unsere Fische sind immer frisch, sagt der Fischverkäufer, wir achten auf unsere Ware. An diesem Novemberdonnerstag ist der Platz vor der Kirche leer, die Tauben sitzen auf dem Boden vor dem Vogelhaus, sie picken auf, was die Meisen fallen gelassen haben. Würde Maria mit dem Fuß auf das Pflaster stampfen, würden die Tauben davonfliegen, aber Maria bewegt ihre Füße nicht. Sie sitzt und wartet, bis sie nach Hause gehen kann.
Nach Hause sind es fünfundzwanzig Minuten. Manchmal braucht Maria länger für die Strecke, wenn sie Bekannte trifft und stehen bleiben oder die Straßenseite wechseln muss. An kalten Tagen zieht sie den Schal über ihren Kopf, damit sie weniger leicht zu erkennen ist. Der Platz mit der Kirche liegt in einem anderen Stadtteil als Marias Wohnung, hier trifft sie niemanden, außer die Marktfahrer, die ihre Geschichte nicht kennen, außer die Tauben, die schlecht auseinanderzuhalten sind. An diesem Novemberdonnerstag hat Maria unweit ihrer Wohnung Sybille getroffen, die sie vor einigen Jahren fast jeden Tag sah, wenn sie von der Arbeit nach Hause kam. Im Vorübergehen schaute Maria durch das Schaufenster in Sybilles Frisiersalon, und sie winkte, wenn Sybille in ihre Richtung blickte, an Sommertagen stand die Tür offen. Alle zwei Monate saß sie bei Sybille, Farbe und Schnitt, fragte Sybille dann, immer um den Fünfzehnten eines ungeraden Monats. In Sybilles Frisiersalon gab es eine Treppe, im Erdgeschoß wurden den Männern, oben im Hinterzimmer den Frauen die Haare gemacht. Maria trank Kaffee, während sie darauf wartete, dass die Farbe einwirkte, ab und zu kam Sybille vorbei, schaute auf Marias Kopf, sagte, ein bisschen noch, soll ich Ihnen etwas zu lesen bringen. Wenn Sybille sich danach wieder einer anderen Kundin widmete, kratzte Maria heimlich mit dem Zeigefinger auf der Kopfhaut, die von der Farbe juckte. Den Finger wischte sie in dem schwarzen Handtuch ab, das in den Kragen ihres Mantels gesteckt war, und vor dem letzten Schluck Kaffee aß Maria die Praline, die neben dem Löffel auf der Untertasse lag. Aus dem Erdgeschoß hörte sie dabei Männerstimmen, aber nur manchmal, wenn Kunden im Frisiersalon waren und wenn sie sprachen.
Maria, sagte Sybille, als die beiden einander an diesem Novemberdonnerstag auf der Straße trafen, und winkte. Maria, wie geht es Ihnen. Maria blickte von ihrer Handtasche auf, klemmte sie unter ihren Arm. Gut, sagte sie, ich kann mich nicht beschweren. Ich suche mein Mobiltelefon, wissen Sie, in diesen großen Taschen findet man nichts, diese großen Taschen schlucken alles, kein Wunder, wenn etwas verschwindet. Arbeiten Sie denn heute nicht, haben Sie Urlaub, fragte Sybille. Maria machte den Reißverschluss ihrer Tasche zu, langsam, damit er nicht heraus springen würde. Nein, es war an der Zeit, sich neu zu orientieren. Sie wissen ja, das Leben läuft dahin.
Sybilles Frisiersalon hieß
Frisiersalon Sybille
, das Schild hängt immer noch über der Eingangstür, blaue Schnörkelschrift auf weißem Grund. Sybille kommt nur noch selten in die Straße, sie wohnt in einem anderen Stadtteil, wo die Häuser weiter auseinander stehen und die Straßen breiter sind. Sybille, was machen Sie hier, hätte Maria fragen können, aber Maria wollte weiter. Entschuldigen Sie, ich muss mich beeilen, ich habe wenig Zeit, sagte sie, als Sybille erwartungsvoll lächelte, nachdem Maria erzählt hatte, es sei an der Zeit, sich neu zu orientieren. Sybille hatte ihr Erzählen-Sie-doch-Lächeln aufgesetzt, aber Maria wollte nicht erzählen.
War ich unfreundlich, denkt Maria, als sie auf der Parkbank vor der Kirche ihren Schal vom Hals nimmt und ihn neu wickelt, sodass er besser liegt und die Kälte abhält. Der Schal ist aus Wolle, gemischt mit Angora. Den dürfen Sie nicht in der Maschine waschen, sonst wird er kaputt, hätte Maria zu Kundinnen gesagt, passen Sie gut auf darauf, dann begleitet Sie das Stück ein Leben lang. Wenn ich ihn nicht verliere, antwortete eine Kundin einmal, und Maria schaute kurz böse, dann lächelte sie. Bestimmt nicht, sagte sie, so einen Schal verliert man nicht.
Vor der Kirche steht ein Mann, er steckt sein Mobiltelefon in die Manteltasche, dann öffnet er die schwere Holztür, deren Griff so hoch angebracht ist, dass Kinder ihn nicht erreichen. Maria erschrickt, sie schaut zur Seite, sie möchte ihr Gesicht verbergen, aber sie weiß nicht, wohin damit. Weil das Gesicht
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