Erst der Sex, dann das Vergnügen: Roman (Piper Taschenbuch) (German Edition)
1
»Wie alt sind Sie denn jetzt, Frau … äh …«
An den Altersflecken auf dem Handrücken der Männerhand, die meine über die Jahre angeschwollene Patientenakte aufklappte, merkte ich, wie viel Zeit vergangen war, seit ich das letzte Mal hier gewesen war. Doktor Süßmann ging es wohl genauso, und er war sich wegen meiner Lebensumstände nicht mehr ganz so sicher. Er kniff die Augen zusammen, um den Eintrag auf der Vorderseite lesen zu können.
»Heißen Sie wie früher, oder haben Sie inzwischen …«
Nein, hatte ich nicht. Wir waren zwar irgendwie verlobt, aber Heiraten hatten wir im Moment nicht auf dem Schirm, Felix und ich, und ich beeilte mich zu sagen: »Da hat sich nichts geändert. Ich heiße immer noch Hanssen.«
»Gut. Oder auch nicht gut«, antwortete Dr. Süßmann skeptisch. »Frau Hanssen, Sie marschieren ja ganz ordentlich auf die vierzig zu, wie sieht’s denn da mit Ihrem Kinderwunsch aus?«
Die vierzig nicht mehr weit? Ich war gerade mal Mitte dreißig! Ich blickte durch meine in gynäkologischen Knieschienen aufgespreizten Beine auf die meterhohe abgewetzte Steiff-Giraffe, mit der ich schon als Kind gespielt hatte, wenn meine Mutter sich bei Doktor Süßmann untersuchen ließ. Eigentlich hatte ich diese Praxis in der Nymphenburger Straße in München immer gern gemocht. In ihr sah es wenigstens weder aus wie in einem Spaceshuttle noch wie in einer vermufften Abstellkammer. Das nämlich waren die zwei Extreme, auf die ich in meiner Wahlheimat Berlin gestoßen war, als ich nach einem Arzt suchte, von dem ich meinen Busen abtasten und meine Spirale justieren lassen wollte. Nach den letzten zwei Versuchen (mit einem scheuen Klemmi mit vom Trinken schuppiger Haut in der Friedrichstraße und einem gegelten Pferdeschwanzträger in schwarzem T -Shirt und bis zur Brust hochgezogener Bundfaltenhose in der Hermannstraße) hatte ich mich an meinen Frauenarzt aus Studienzeiten erinnert und meine Vorsorgeuntersuchung lieber auf den nächsten Münchenbesuch gelegt. Nämlich auf heute. Denn ich war auf dem Weg nach Bozen, beruflich, und ich hatte einen Abstecher in München eingeplant, um Felix zu sehen. Ideal also, um bei Doktor Süßmann meine Familienplanung auf den neuesten Stand zu bringen. Genauer gesagt: um mir eine neue Spirale einsetzen zu lassen.
Und zwar in einer ganz normalen, ein wenig ökigen Arztpraxis mit nachgedunkelten Kiefernmöbeln, raumhohen Gummibäumen, selbst geschossenen Porträtfotos großäugiger Indiokinder und einem verständnisvollen Doktor, der statt weißem Kittel ausschließlich karierte Hemden und Jeans trug und sein joviales Verständnis für alle Lebenslagen geradezu ausdünstete.
»Frau Hanssen?«
Die gepuderten Latexhandschuhe machten leicht schmatzende Geräusche, als Herr Dr. Süßmann sie über seine Hände zog.
»Sie müssen jetzt nichts entscheiden«, sagte er, als er zwischen meine Beine trat, »aber ich muss Sie natürlich warnen, dass es in Ihrem Alter mit der Fruchtbarkeit rapide bergab geht.«
Natürlich wollten wir Kinder, Felix und ich, oder? Oder?! Aber erst, wenn alles in trockenen Tüchern war. Also so in fünf Jahren. Oder in zehn. Ein Kind in die Weltwirtschaftskrise hineinsetzen, mit Eltern, die beide selbstständig waren? Nö. Ich liebte Kinder, na klar, schließlich verdiente ich ja auch mein Geld mit ihnen, aber genau das war der Punkt – ich hatte schon ein Baby, nämlich meine Firma. Wunderland, Babykleidung & Accessoires aus Kaschmir. Von mir erfunden, von mir gegründet, von mir allein am Laufen gehalten. Wunderland war mein ganzer Stolz. Und ließ mich gern zu Klassentreffen reisen und bei einem Aperol Sprizz erzählen, wie ich es geschafft hatte, aus meinem Hobby einen Beruf zu machen. Wunderland und ich waren keins von diesen Paaren, die schon immer zusammen sind und bei denen immer alles toll aussieht, bis sie sich nach fünfzehn Jahren plötzlich trennen. Ich sagte nicht »Job« zu meiner Arbeit, sondern »mein Laden«. Wunderland und ich hatten uns nicht gesucht, aber gefunden. Gefunden wie ein Liebespaar: Es passiert immer dann, wenn man gerade nicht daran denkt. Denn niemals hätte ich, als abgebrochene Jurastudentin und kurzzeitige TV -Moderatorin, in Erwägung gezogen, dass mich das Stricken einmal ernähren könnte. Und jetzt war ich zwar nicht reich, aber glücklich. Ich hatte mich im richtigen Moment einfach getraut, alles hinzuwerfen und meiner Eingebung zu folgen. Und seitdem hatte ich nur Glück: im Job und in
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