Der Wissenschaftswahn
unerschütterlichen Zuversicht mit folgenden oft zitierten (aber nicht mit Sicherheit von ihm stammenden) Worten Ausdruck gegeben haben: »Es gibt in der Physik jetzt nichts Neues mehr zu entdecken. Immer genauere Messungen, das ist alles, was noch zu tun bleibt.«
Alle diese Überzeugungen fielen Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts in Scherben, als es in der Physik zu völlig unerwarteten neuen Entwicklungen kam – Quantenphysik, Relativitätstheorie, Kernspaltung und Kernfusion (etwa in Atom- und Wasserstoffbomben), die Entdeckung von Galaxien außerhalb unserer Milchstraße und schließlich die Urknalltheorie, die besagt, dass dieses Universum vor etwa 14 Milliarden Jahren als etwas sehr Kleines und ungemein Heißes seinen Anfang nahm und sich seitdem unter Abkühlung ausdehnt und entwickelt.
Dennoch kamen zum Ende des zwanzigsten Jahrhunderts wieder Allwissenheitsphantasien auf, diesmal beflügelt von den physikalischen Triumphen des zwanzigsten Jahrhunderts und den Entdeckungen der Neurobiologie und Molekularbiologie. 1996 veröffentlichte John Horgan, damals Wissenschaftsredakteur beim
Scientific American
, ein Buch mit dem Titel
The End of Science: Facing the Limits of Knowledge in the Twilight of the Scientific Age
(An den Grenzen des Wissens: Siegeszug und Dilemma der Naturwissenschaften)
. Er hatte zahlreiche führende Wissenschaftler interviewt und stellte folgende provozierende These auf:
Wer an die Naturwissenschaft glaubt, hat sich mit der Möglichkeit, ja Wahrscheinlichkeit anzufreunden, dass die Ära der wissenschaftlichen Entdeckungen vorbei ist. Mit »Naturwissenschaft« spreche ich nicht die angewandte Wissenschaft an, sondern reine Wissenschaft in ihrer ganzen Größe als das Grundbestreben des Menschen, dieses Universum und seinen Platz in ihm zu verstehen. Weitere Forschungen werden wohl keine großen Offenbarungen mehr bereithalten, keine Umwälzungen mit sich bringen, sondern nur noch einen kleineren Zuwachs an Wissen in kleiner werdenden Schritten. [33]
Hierin hat Horgan sicher recht: Wenn etwas einmal entdeckt wurde, etwa die Struktur der DNA , kann man es nicht immer weiter entdecken. Nur dass er eben die Grundaussagen der herkömmlichen Wissenschaft als erwiesen ansah. Er ging davon aus, dass die grundlegenden Antworten bereits bekannt seien. Nun, sie sind es nicht, vielmehr lässt sich jede einzelne dieser Antworten durch interessantere und wesentlich ergiebigere Fragestellungen ersetzen. Das möchte ich in diesem Buch aufzeigen.
Naturwissenschaft und Christentum
Die Begründer der mechanistischen Naturwissenschaft im siebzehnten Jahrhundert – Johannes Kepler, Galileo Galilei, René Descartes, Francis Bacon, Robert Boyle, Isaac Newton und andere – waren praktizierende Christen. Kepler, Galilei und Descartes waren Katholiken, Bacon, Boyle und Newton Protestanten. Boyle war ein reicher Adliger und überaus fromm. Er setzte beträchtliche Teile seines Privatvermögens für die christliche Mission in Indien ein. Newton wandte viel Zeit und Kraft für Bibelforschungen auf und interessierte sich besonders für die Datierung von Prophezeiungen. Der Tag des Gerichts wird nach seinen Berechnungen in die Zeit zwischen 2060 und 2344 fallen. Zu den Einzelheiten verfasste er sogar ein Buch,
Observations on the Prophecies and the Apocalypse of St. John.
[34]
Die Naturwissenschaft des siebzehnten Jahrhunderts entwarf ein Bild des Universums als Maschine, die ein Gott klug konstruiert und in Gang gesetzt hatte. Alles unterlag ewigen mathematischen Gesetzen, die als Ideen im Geist Gottes aufgefasst wurden. Diese mechanistische Philosophie war deshalb so revolutionär, weil sie die animistische Weltsicht des mittelalterlichen Europas verwarf (siehe Kapitel 1 ). Bis zum siebzehnten Jahrhundert waren die Gelehrten und Theologen ganz selbstverständlich davon ausgegangen, dass die Welt lebendig ist, durchdrungen vom Geist Gottes, dem göttlichen Lebensatem. Alles war beseelt, Pflanzen, Tiere und Menschen. Die Sterne, die Planeten und die Erde selbst waren Lebewesen, von engelhaften Intelligenzen geleitet.
Die Mechanistische Naturwissenschaft lehnte solche Lehren ab und trieb der Natur die Seele aus. Die materielle Welt wurde buchstäblich leblos, eine seelenlose Maschine. Materie war ohne Bestimmung und Bewusstsein, Planeten und Sterne waren tot. Im gesamten stofflichen Universum war das einzig Nicht-Mechanische der Menschengeist. Er war selbst immateriell und gehörte wie die Engel und Gott
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