Der Wissenschaftswahn
größerem Einfluss als jeder andere Denkansatz in der Geschichte der Menschheit. Ihre Macht gründet sich größtenteils auf ihre praktischen Anwendungen, aber sie wirkt auch intellektuell sehr ansprechend. Sie bringt uns ein neues Verständnis der Welt nahe, beispielsweise der mathematischen Ordnung auf der molekularen und atomaren Ebene, der Molekularbiologie der Gene und der kosmischen Evolution in ihren kaum vorstellbaren Dimensionen.
Wunschträume von Allwissenheit
Der Wunschtraum gottähnlicher Allwissenheit ist in der Geschichte der Naturwissenschaften ein wiederkehrendes Thema. Zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts malte sich der französische Physiker Pierre-Simon Laplace einen wissenschaftlichen Geist aus, der alles weiß und alles vorhersagen kann:
Man denke sich eine Intelligenz, welche jederzeit Kenntnis aller die Natur beherrschenden Kräfte einschließlich des augenblicklichen Zustands sämtlicher Gebilde besäße, aus denen die Natur besteht. Wäre diese Intelligenz imstande, alle diese Daten der Analyse zu unterziehen, so wäre sie in der Lage, die Bewegungen der größten Himmelskörper und der leichtesten Atome in einer einzigen Formel zu erfassen. Nichts wäre ihr ungewiss. Vergangenheit und Zukunft stünden ihr gleichermaßen klar vor Augen. [24]
So dachte man nicht nur in der Physik. Thomas Henry Huxley, der so viel für die Verbreitung von Darwins Evolutionstheorie tat, wollte den mechanistischen Determinismus auch auf den gesamten Evolutionsprozess ausdehnen:
Sollte die Grundannahme des Evolutionsgedankens zutreffen, dass die gesamte belebte und unbelebte Welt auf die nach definitiven Gesetzen ablaufenden Wechselwirkungen jener Kräfte zurückzuführen ist, die den Molekülen zu eigen sind, aus welchen das Universum in seiner ursprünglichen Nebelgestalt bestand, so muss mit gleicher Gewissheit diese gegenwärtige Welt in den kosmischen Dünsten angelegt gewesen sein, und ein Verstand von genügender Fassungskraft hätte vermöge der Kenntnis der Eigenschaften der Moleküle dieses Nebels zum Beispiel den Bestand der Fauna Großbritanniens im Jahre 1869 vorhersagen können. [25]
In der Anwendung auf das menschliche Gehirn folgte aus diesem Determinismus, dass es einen freien Willen nicht geben kann, da alle molekularen und physikalischen Abläufe im Gehirn im Prinzip absehbar und berechenbar sind. Dieser Glaube ruhte jedoch nicht auf einer wissenschaftlichen Grundlage, sondern einzig auf der Annahme, dass alles von mathematischen Gesetzen bestimmt sei.
Auch heute halten viele Naturwissenschaftler den freien Willen für eine Illusion. Erstens, heißt es, funktioniere das Gehirn nach Art einer Maschine, und zweitens sei außerhalb dieser mechanischen Abläufe kein eigenständiges Ich zu erkennen, das Entscheidungen treffen könne. So verkündete der britische Gehirnforscher Patrick Haggard noch 2010 im Brustton der Überzeugung: »Als Neurowissenschaftler bin ich zwangsläufig Determinist. Es gibt physikalische Gesetze, nach denen sich die elektrischen und chemischen Ereignisse im Gehirn richten müssen. Die Möglichkeit, unter identischen Umständen anders zu handeln, existiert nicht. Es gibt kein Ich, das sagen könnte: ›Ich will aber anders handeln.‹« [26] Und selbst Haggard lässt sich von der Wissenschaft nicht in sein Privatleben hineinreden: »Ich halte mein wissenschaftliches Leben und mein Privatleben säuberlich getrennt. Mir kommt es trotz allem so vor, als würde ich entscheiden, welchen Film ich mir ansehe, ich empfinde es nicht als vorherbestimmt, obwohl es irgendwo in meinem Gehirn schon festgelegt sein muss.«
Weitere Allwissenheitsphantasien
Gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts umfasste der Traum von der Allwissenheit der Naturwissenschaften weitaus mehr als nur den Glauben an den Determinismus. 1888 schrieb der kanadisch-amerikanische Astronom Simon Newcomb: »Wir nähern uns wahrscheinlich der Grenze dessen, was wir in der Astronomie überhaupt wissen können.« Und 1894 erklärte der spätere Physik-Nobelpreisträger Albert Michelson: »Die wichtigen Grundgesetze und Grundtatsachen der Physik sind entdeckt und so grundsolide abgesichert, dass die Wahrscheinlichkeit ihrer Verdrängung durch neue Erkenntnisse verschwindend gering erscheint … Künftige Entdeckungen muss man schon an der sechsten Stelle hinter dem Komma suchen.« [32] William Thomson, besser bekannt als Lord Kelvin, Physiker und Erfinder der internationalen Telegraphie, soll 1900 seiner
Weitere Kostenlose Bücher