Der Wissenschaftswahn
»scheint niemand zu wissen, für was ›M‹ steht, aber es kann ›Master‹ oder ›Miracle‹ oder ›Mystery‹ bedeuten«. Nach dem, was Hawking »modellabhängigen Realismus« nennt, können je nach Situation verschiedene Theorien anzuwenden sein. »Jede Theorie kann ihren eigenen Wirklichkeitsbegriff haben, und für den modellabhängigen Realismus darf das auch so sein, solange die Theorien dort, wo sie sich überschneiden, zu gleichen Voraussagen kommen, also immer dann, wenn beide anwendbar sind.« [9]
Da String-Theorien und M-Theorien gegenwärtig nicht mit wissenschaftlichen Methoden überprüfbar sind, kann der modellabhängige Realismus nur in seinem Bezug zu anderen Modellen, nicht aber aufgrund von Experimenten beurteilt werden. Zudem gilt dieser Ansatz auch für unzählige andere Universen, die freilich noch nie beobachtet worden sind. In Hawkings Worten:
Für die M-Theorie gibt es Lösungen, die
verschiedene Universen
mit … unterschiedlichen Gesetzen zulassen, je nachdem, wie der innere Raum gekrümmt ist. Für die M-Theorie gibt es Lösungen, die viele verschiedene innere Räume zulassen, möglicherweise bis zu 10500, und das bedeutet, dass sie 10500 verschiedene Universen zulässt, jedes mit seinen eigenen Gesetzen … Die alte Hoffnung der Physik, nämlich eine Theorie hervorbringen zu können, welche die … Gesetze unseres Universums als einzig mögliche Folgerung aus wenigen einfachen Annahmen erklärt, muss womöglich aufgegeben werden. [10]
Manche Physiker begegnen diesem ganzen Ansatz mit großer Skepsis, wie in Lee Smolins Buch
The Trouble With Physics
(Die Zukunft der Physik)
nachzulesen ist. [11] String-Theorie, M-Theorie und modellabhängiger Realismus sind eine wacklige Grundlage für Materialismus oder Physikalismus oder jeden anderen wissenschaftlichen Glauben. Dazu mehr in Kapitel 1 .
Drittens zeichnet sich seit dem Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts ab, dass die bekannten Formen der Materie und Energie nur etwa vier Prozent des Universums ausmachen. Der Rest besteht aus »dunkler Materie« und »dunkler Energie«. Um was es sich bei den übrigen 96 Prozent der physikalischen Realität handelt, ist buchstäblich dunkel (siehe Kapitel 2 ).
Drittens besagt das »kosmologische anthropische Prinzip«, dass biologisches Leben nicht hätte entstehen können, wären die Naturkonstanten im Augenblick des Urknalls auch nur ein wenig anders gewesen – und dann wären wir jetzt nicht hier, um darüber nachzudenken (siehe Kapitel 3 ). Hat dann ein göttliches Bewusstsein für die Feinabstimmung der Gesetze und Konstanten am Anfang gesorgt? Um zu verhindern, dass Gott in neuem Gewand wieder eingeschleust wird, nehmen die meisten Kosmologen lieber an, dass unser Universum nur eines von vielen, vielleicht sogar unendlich vielen möglichen parallelen Universen ist, die alle ihre ganz eigenen Gesetze und Konstanten haben, wie es auch nach der M-Theorie möglich erscheint. Wir leben eben zufällig in dem Universum, das uns die richtigen Bedingungen bietet. [12]
Die Multiversen-Theorie ist die denkbar größte Abweichung von einem Prinzip, das »Occams Rasiermesser« genannt wird. Es besagt, dass die »Anzahl der Entitäten nicht über das notwendige Maß hinaus zu vermehren« ist oder, mit anderen Worten, dass wir mit möglichst wenig Annahmen auskommen sollten. Darüber hinaus hat diese Theorie den großen Nachteil, dass sie nicht überprüfbar ist. [13] Sie stellt nicht einmal sicher, dass Gott draußen bleibt. Ein unendlicher Gott könnte der Gott unendlich vieler Universen sein. [14]
Noch gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts schien der Materialismus ein einfaches und einleuchtendes Weltbild zu bieten, doch die Naturwissenschaft des einundzwanzigsten Jahrhunderts hat ihn weit hinter sich gelassen. Seine Versprechen haben sich nicht erfüllt, seine Gutscheine sind von einer rasanten Inflation entwertet worden.
Die Naturwissenschaften werden von zu Dogmen verhärteten und durch machtvolle Tabus geschützten Annahmen behindert, davon bin ich überzeugt. Diese Glaubenssätze schützen wohl die Zitadelle der etablierten Naturwissenschaft, wirken jedoch ebenso als Barriere gegen aufgeschlossenes Denken.
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Prolog
Wissenschaft, Religion und Macht
Die Naturwissenschaft beherrscht und verwandelt die Welt seit dem ausgehenden neunzehnten Jahrhundert. Als Technik und Medizin ist sie in jedem Leben gegenwärtig. Ihr intellektueller Ruf ist nahezu unwidersprochen. Sie ist von
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