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Der Wolf

Der Wolf

Titel: Der Wolf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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Tage war es her, mindestens. Ich war mal schön. Ich war mal glücklich. Ich hatte das Leben, das ich mir wünschte.
    Vorbei.
    Sie wandte sich dem Stapel Briefen an ihrer Haustür zu. Die Wirklichkeit holt mich ein, stellte sie fest. Sie wünschte sich, betrunkener oder betäubter zu sein, doch sie fühlte sich vollkommen nüchtern.
    Also trat sie an den Haufen Mahnbriefe heran. Ihr könnt alles haben, sagte sie. Ich will nichts davon behalten.
    Der unauffällige Brief mit dem New Yorker Poststempel lag zuoberst. Sie konnte nicht sagen, wieso er ihr ins Auge sprang.
    Sarah bückte sich und hob ihn auf. Zuerst hielt sie ihn für eine wirklich clevere Masche, die sich ein Gläubiger hatte einfallen lassen, damit sie reagierte. Der Stempel »Zweite Mahnung« in großen roten Lettern auf dem Umschlag bewirkte tatsächlich nur, dass sie die Forderung ignorierte. Aber gar nichts zu vermerken – also, das war geschickt. Ihre Neugier war geweckt. Paradoxe Psychologie.
    Na schön, räumte sie ein, während sie träge den Umschlag aufriss. So viel muss man dir lassen. Die Runde geht an dich. Ich lese deinen Drohbrief, in dem du mich aufforderst, für etwas, das ich nicht mehr will oder brauche, Geld zu bezahlen, das ich nicht habe.
    Sie las, und mit jedem Satz wurde ihr klar, dass sie an diesem Tag weder genug getrunken noch genug Pillen genommen hatte.
    Als sie fertiggelesen hatte, fühlte sie sich zum ersten Mal richtig nackt.
     
    Kurz nach der letzten Unterrichtsstunde am Vormittag wurde Jordan Ellis zu Rote Drei, und ihr war absolut elend zumute. Sie begriff ihre neue Rolle nicht sofort, da sie gerade dabei war, in einer Serie von Misserfolgen, die sich nun schon seit einem Jahr aneinanderreihten, den neuesten wegzustecken, diesmal in amerikanischer Geschichte. Sie starrte auf ihren Aufsatz, den die knappe Randbemerkung des Lehrers zierte: »Kommen Sie in meine Sprechstunde«, darunter eine schwache Vier. Sie knüllte die Blätter in der Faust zusammen, stieß einen tiefen Seufzer aus und strich sie wieder glatt. Die Note sagte wenig über ihre Fähigkeiten, so viel wusste sie. Worte, Sprache, Ideen, Sinn fürs Detail – das alles lag ihr im Blut. Vor nicht allzu langer Zeit war sie noch eine Einser-Schülerin gewesen, doch jetzt konnte sie nicht sagen, ob sie sich das für alle Ewigkeit abschminken musste.
    Jordan merkte, wie die Wut in ihr hochstieg. Sie wusste, dass dies kein Einzelfall war, und dabei kam es jetzt darauf an. In Französisch würde sie durchfallen, nur mit Ach und Krach Geschichte schaffen, in Mathematik und Naturwissenschaft hoffentlich gerade noch mit einem blauen Auge davonkommen und sich in Literatur einigermaßen durchschleppen – während die Collegebewerbung wie ein Damoklesschwert über ihrem Kopf hing. Dabei war sie an dieser Anhäufung akademischer Desaster nicht schuld. Früher war ihr alles leichtgefallen. Jetzt erschienen ihr die Hürden unüberwindbar. Sie konnte sich nicht mehr konzentrieren. Sie schaffte die Arbeit nicht mehr, die ihr einmal Spaß gemacht hatte und so mühelos von der Hand gegangen war. Vor einer Woche hatte die Schulpsychologin ihr gegenübergesessen und ihr auf den Kopf zugesagt, sie verhalte sich aus Trotz selbstzerstörerisch, um Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Jede schlechte Note fasste sie in der einfachsten Gleichung zusammen: »Es hat Sie hart getroffen, Jordan, als Ihre Eltern Ihnen sagten, sie wollten sich scheiden lassen. Jetzt kommen Sie bitte darüber hinweg.«
    Dabei war es nicht annähernd so einfach. Sie hasste Schwarzweißpsychologie. Im Weltbild der Schulpsychologin war das Leben offenbar eine Art Drahtseilakt über einem Abgrund, und Jordan war ein bisschen aus dem Tritt geraten.
    Wenn sie dagegen die Landschaft ihres letzten Jahres an der Schule betrachtete, dann blickte sie inmitten von Lehm und Schlamm auf nichts als Steine und zerklüftetes Gelände. Jungen, mit denen sie einmal unbekümmert ihre ersten sexuellen Erfahrungen gemacht hatte, zogen jetzt über sie her. Mädchen, die sie einmal für Freundinnen gehalten hatte, tratschten unentwegt hinter ihrem Rücken. Die Lehrer, die sie früher wegen ihres Fleißes, ihrer Intuition und guten Arbeit gelobt hatten, behandelten sie jetzt, als wäre sie mit einem Schlag verblödet. Ihr Leben war so kompliziert, so verworren, dass sie nicht mehr weiterwusste. Ein ganz normaler Tag in Jordans Leben, sagte sie sich: am Morgen eine schlechte Note in der Klausur; beim Basketballtraining am Nachmittag

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